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Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung ; Hauptorgan d. dt. Kunstvereine — 6.1861

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https://doi.org/10.11588/diglit.13515#0100

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humanen Bildung, den eigentlichen Komplex aller Kaloka-
gathie, irrigerweise als eine entbehrliche Zugabe der un-
entbehrlichen technischen Fertigkeit betrachten und glauben,
dergleichen könne man dem reifenden Scholaren selbst, nach
Maaßgabe seiner privaten Beschäftigung, für die späteren
Jahre des selbstständigen Betriebes überlassen.

Hallt ein solcher Geist aus öffentlichen Anstalten heraus,
wer will da noch behaupten, daß man irgend einen Be-
griff von Mittel oder Zweck, von Ursache und Wirkung
habe, daß wir aus der angeblich längst überwundenen,
unsäglich dürren, beschränkten Zeit des sogenannten Nütz-
lichkeits-Princips heraus seien? Nein, meine Herrn Akade-
miker, wir stecken noch mitten darin! Wie viele von euren
fähigen oder unfähigen Scholaren könnt ihr aufweisen,
die durch ein Studium der vorzüglichsten Autoren ihren
Sinn zu wecken, ihren Geschmack zu läutern suchten, die
mit Göthe, Schiller, Lessing, Shakspeare, Homer, Sopho-
kles, mit den unvergleichlich herrlichen und großartigen
Propheten und Geschichten der Bibel, niit den Rednern
oder Historikern der älteren und neueren Zeiten mehr als dem
Nanien nach vertraut sind? Tragen sie nicht alle, mit selte-
nen, wundergleichen Ausnahmen, die bedauerlichste Rohheit
und Unwissenheit zur Schau? Muß ein solcher Mangel
nicht auf die künstlerische Behandlung nachtheilig eiuwir-
ken, sie nicht mehr oder weniger zur gemeinen Lohnarbeit
erniedrigen, nicht selbst das Urtheil mit herabzieheu? Liegt
der Genius in den Fingern oder im Kopfe? Und wenn
in diesem, hat man nicht Ursache, ihm früh so viel als
möglich zuzuführen, anstatt ihn schwach und leer, wie er
gekommen, zu entlassen, mit der Anweisung auf den Zufall
und die Noth? Hat man nie von jener großartigen Zeit
gehört, wo ein Maler, ein Bildhauer nicht selten der ver-
schiedensten Wissenschaften zugleich, der Mechanik, der Bau-
kunst, der Fortisikation, der Musik und anderer mächtig war,
zugleich auch die alten Klassiker, wenigstens die lateinischen,
fertig las, in ihren Ueberlieferungen bewandert war? Leo-
nardo, Raphael, Correggio, welch' sinnvolles, glühendes,
reichbewegtes Leben führten sie! wie lebhaft war ihr Geist,
ihr Herz, unermüdlich und rastlos, mit dem erfüllt, was
sie schaffen wollten und schufen! welche Gestalten und Er-
scheinungen traten, am hellen Tage oder in geheimnißvoll
nächtlicher Offenbarung, vor^ ihren Blick, ihre Hand er-
leuchtend, ihren Marmor, ihre Leincwand entzündend! ■—
jene alten Meister, die ihr nicht besser zu verehren glaubt,
als wenn ihr mit frostigem Pinsel ihre gewaltigen Tugen-
den kopirt, an dieser und jener Biegung, diesem oder jenem
verwegenen Reflex ihren erstorbenen Geist ablauschend! —

„Nun", erwiedert man „wie kann man diese Mängel
in so heftiger Rüge ganzen Anstalten zur Last legen? Wird
denn eine allgemeine literarische Ausbildung der jungen
Künstler irgendwie versäumt? werden nicht erschöpfende,
gründliche Vorträge über Kunstgeschichte gehalten, und
bekommt da der junge Künstler nicht zu hören und zu
lernen, was er braucht, vielleicht sogar auch Manches,
was'er nicht braucht?" — Ich antworte hierauf:' Mit
Geschichte der Kunst, wie mit Geschichte der Literatur,
beschäftigen sich diejenigen oft am liebsten, die an den ein-
zelnen Schöpfungen derselben kein wahres, aufrichtiges
Interesse haben und sich das allgemeine Urtheil, welches uur

dnrch ein treues und tiefes Eingehen auf das Einzelne
zu erringen ist, auf bequemere Weise durch maaßgebende
Uebersichten verschaffen wollen. So werden jene geschicht-
lich spekulativen Darstellungen — bei allem Wcrthe, den
sie an sich behaupten — in den meisten Fällen ein Er-
leichterungsmittel für die den Lesern und Hörern fehlende
Kraft, durch herzhaftes Angreifen der Sache selbst sich einen
gedankenmäßigen Zusammenhang selbstthätig zu bilden. Da
nun in der Welt bekanntlich, anstatt des Handelns, viel
geredet oder geurtheilt wird, und man natürlich fürchtet,
für unwissend und geistlos zu gelten, wenn man nicht
gleichfalls schnell und sicher miturtheilt, so glaubt man,
um mit allen Uebrigen nur ja auf gleichem Niveau zu
stehen, die Ausbildung des kritischen Vermögens, selbst
in noch so passiver Weise, nicht hastig genug beschleunigen
zu können. Das sind die Uebelstände der Allgemeinheit
der Bildung, daß es Jedem erschwert wird, sich langsam,
wenn auch in Mißgriffen und auf weiten Umwegen, doch
in der einzig richtigen Art kräftig und selbstständig zu
entwickeln! — In der Kunst hat, auf Grund einer um-
fassenden und gelehrten Uebersicht, natürlich auch die Reife
des bestimmten Urtheils ihren Werth; und was wäre zuletzt
der Künstler ohne Uebersicht, ohne Urtheil? Aber das Vor-
züglichste ist dieses doch nicht, am wenigsten ist es, worauf
man es fast absichtlich anlegt, geeignet, die lebendige, allein
schöpferische Kraft der Phantasie des Gedankens zu ersetzen.
Gerade das Einzelne, Besondere, stark Wirkende ist es,
was den Geist anregend befruchtet, und weit mehr ist von
demjenigen Zögling zu erwarten, der, au bedeutenden
Stoffen der Phantasie entzündet, Maaß und Ziel vergessend
in sprudelnder Fülle überströmt, als von demjenigen, der,
in sicherer Ueberschau, mit weitem, aber kaltem Urtheile
nur fremdes Maaß ängstlich und bedächtig nachmißt. Denn
um die Gestalten, welche er aufgefaßt, in dramatische Be-
wegung zu bringen, dazu verhilft ihm in genügender Weise
weder ein Modell, noch eine tiefe und gelehrte Abhand-
lung, sondern nur diejenige Anregung, welche aus dem
mannigfach wechselnden Geist, der von konkreten Anschauun-
gen erfüllt und von Ideen begeistert ist, unmittelbar und
bewältigend hervorströmt. Was der Künstler in der all-
gemeinsten Beziehung als denkender, begabter Mensch ist
und leistet, das wird in den meisten Fällen unendlich
mehr entscheiden, als jene unglückliche Verbindung von kri-
tischer Uebersicht und technischer Schulung — das Höchste
und Letzte, zu dem es unsre Kunstanstalten im glücklichsten
Falle bringen. Und gerade auf Jenes wäre vor allen Din-
gen nachhaltig und systematisch hinzuarbeiten. Dürfte ich
nun in dieser Beziehung einen praktischen Rath ertheilen,
so wäre es folgender:

Für die zu bildenden Künstler — und unter ihnen na-
mentlich für diejenigen, welche durch hervorragendes Talent
sich zu umfassenderen Leistungen befähigt zeigen — sollten,
nach festzustelleudem Reglement, auf den Akademien wieder-
holte literarische Konversatorien, Repetitorien und Prüfun-
gen eingeführt werden. Diese hätten in mannigfach an-
regender, natürlich von peinlicher Pedanterie entfernter
Weise herauszustellen, was jeder Einzelne, theils in öffent-
lichen Vorträgen, namentlich aber in privater Beschäftigung
an literarisch-historischen Studien für allgemeinere Kennt-
 
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