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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 15.1904-1905

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Michel, Wilhelm: Kunst und Wissen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7137#0128

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KUNST UND WISSEN.

Es gibt wohl wenige geflügelte Worte,
die soviel Unheil und Begriffs-Ver-
wirrung angestiftet haben, als das viel-
berufene Zitat Goethes: »Bilde, Künstler,
rede nicht!« — Offenbar will dieses knappe
Diktum lediglich den Vorzug einer energischen
Gestaltung im Gegensatz zu läppischem
Drum-herum-reden, zu trägem Allegorisieren
ins rechte Licht setzen. Aber wie das Wort
gewöhnlich angewendet wird, gilt es als
eine Art Maulkorb für alle jene Künstler,
die das Bedürfnis fühlen, sich zuweilen auch
mündlich oder schriftlich zu äussern, Sei es
über ästhetische Fragen, sei es über all-
gemeine Kunstprobleme, sei es über Gegen-
stände, die mit ihrer Kunst überhaupt nichts
zu tun haben. Dieses Zitat muss sich somit,
seinem ursprünglichen Sinne ganz zuwider,
in den Dienst jener weitverbreiteten Ansicht
stellen, als gehe den bildenden Künstler als
solchen das weite Reich des Wissens nicht
das Mindeste an, als habe er seiner Pflicht
vollauf genügt, wenn Auge und Hand einen
gewissen Grad der Ausbildung erlangt haben.
Vielfach wird sogar geglaubt, es stünde die
Kultur des »Verstandes« in einem unversöhn-
lichen Gegensatze zur Ausbildung jener
Qualitäten, die Träger des künstlerischen
Ingeniums sind. Man befürchtet von der
»Bildung« eine Schädigung des Unbewussten,
eine Trübung jener Naivetät der Anschauung,
die man als das A und O des künstlerischen
Schaffens richtig erkannt hat. Den Gegen-
satz zwischen wissenschaftlich-analytischer
und künstlerisch-intuitiver Betrachtungsweise,
der allerdings besteht, hält man in diesen
Kreisen für kontradiktorisch und schafft sich
so ein bequemes Faulbett und eine schöne
Ausrede für mangelndes Wissen und geistige
Unselbständigkeit.

Seht euch unsere jungen Akademiker an,
wie sie in den Biergärten beim Maßkrug
zusammensitzen! Es ist ein Jammer, diesen
Gesprächen zuzuhören. O ja, in »kalten«
und »warmen« Tönen, in der Wirkung des
Sonnenlichtes, in der künstlerischen Anatomie
wissen sie oft recht wohl Bescheid. Eine
Verzeichnung weisen sie euch haarscharf
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nach, ein Fehler im Kolorit fällt ihnen
gleich ins Auge. Aber sobald die Sprache
auf Dinge kommt, die nur ein von ener-
gischer Gedankenarbeit kreuz und quer durch-
pflügtes Gehirn zu fassen vermag, sowie
das Ganze eines Kunstwerks, der Spiritus
movens einer Persönlichkeit oder eines Zeit-
alters in Frage kommt, da verstummen die
Jünglinge in höchster Ratlosigkeit. Da ist
keine Spur von tüchtigem Selbstdenken,
keine Spur von jener geistigen Habsucht und
Raubgier, die gern aus allem, was an sie
herantritt, ein persönliches Erlebnis, einen
ureigenen Besitz machen möchte. Denn
nicht die Ansammlung von einzelnen Daten
des Wissens, sondern eben diese Ausbildung
einer selbständigen, geistigen Persönlichkeit
geht ihnen ab. Das ist der Kardinalmangel,
den die jungen Künstler von der Akademie
ins Leben hineintragen und oft durch jahre-
lange, jammervolle Fehlgriffe bitter büssen
müssen. — »Wenn ihrs nicht fühlt, ihr
werdets nie erjagen!« sagt man wohl. Aber
gewisse Dinge lassen sich nun einmal nicht
erschnüffeln, und das »Erjagen«-wollen wird
bei ihnen immer noch bessere Dienste tun
als die — Faulheit.

Echte Bildung hat in der Tat noch nie
jener Naivetät geschadet, welche von den
Künstlern mit Recht als ihr notwendigstes
Rüstzeug betrachtet wird. Echte Bildung
wird im Gegenteil zur Befestigung dieser
paradiesischen Unschuld des Künstlerauges
besser taugen als nebulose Nichtswisserei.
Ist der berühmte Friedrich Ratzel, von dem
soeben ein so prächtiges Werk über Natur-
schilderung posthum erschienen ist, etwa
durch seine geologischen und geographischen
Kenntnisse gehindert worden, die Landschaft
so synthetisch als möglich anzuschauen?
Hat wohl Lionardo aus seinem vielseitigen
Wissen eine Minderung seiner intuitiven Ge-
staltungskraft erfahren? Ist es ferner nicht
offenbar, dass ein Mann wie Max Klinger
gerade seiner »Bildung« auch als Künstler
ungeheuer viel verdankt, an Stoffen sowohl
wie an Klarheit über Dinge der Kunst?
— Hat der Künstler nicht bei jedem Kunst-
 
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