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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 15.1904-1905

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Michel, Wilhelm: Zur Ästhetik der Illustration
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https://doi.org/10.11588/diglit.7137#0368

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ZUR ÄSTHETIK DER ILLUSTRATION.

Das Epigramm, der Aphorismus beherr-
schen in tausend Gestalten unsere Zeit
und unsere Kunst. Die pointierte »short
story« ist an die Stelle der alten Novelle
getreten; neben dem breit fundierten Schau-
spiel gewinnt der pikante, flotte Einakter
fortwährend an Boden. Der Höhepunkt
unserer Dichtung liegt in ihrer präzisesten
Form, der Lyrik, und seit Nietzsche ist auch
in der Philosophie der Aphorismus sozusagen
Mode geworden. Von diesem Zuge des
Zeitalters schliesst sich auch die bildende
Kunst nicht aus, und hier hat er vielleicht
die schönsten Früchte gezeitigt, die er über-
haupt bringen könnte. Er hat den Sinn
für das Illustrative bewundernswert geschärft
und diesen lange vernachlässigten Kunst-
zweig, der unter seiner Abhängigkeit von
der Malerei so schwer zu leiden hatte, in

C. H. MACKINTOSH—GLASGOW.

seiner Eigenart energisch erkennen ge-
lehrt. Die Illustration gilt uns heute nicht
mehr als ein armer Seitenschössling der
bildenden Kunst, als eine Art Ableger der
Malerei, sie hat sich vielmehr zum Range
einer eigenen Gattung emporgeschwungen,
deren Gesetze man mit Liebe studiert und
befolgt. Epigrammatisch in ihren Mitteln
wie in ihrem Inhalte, darf sie füglich als
das Schosskind der modernen Kunst-Ent-
wicklung bezeichnet werden und sammelt
gerade die reifsten, feinsten Begabungen
unter ihre Fahnen. Sie erfüllt heute, über
ihre speziellen Aufgaben hinaus, eine emi-
nente kulturelle Aufgabe, indem sie Zeitinhalte
festhält, für welche die übrigen Sparten der
bildenden Kunst nur einen kümmerlichen
Unterschlupf bieten würden. Ich brauche nur
den »Simplizissimus« zu nennen, und jeder
Einsichtige wird diese Be-
hauptung bestätigt finden.
Was unsichtbar zwischen
den unerbittlichen Linien
Th. 7h. Heines, Bruno
Pauls, Gulbranssons fliesst,
was schattenhaft und doch
so greifbar deutlich aus
ihnen emporsteigt, das ist
aktuelle Kultur - Geschichte
in präzisester Form, es ist
quellenmäßige Zeit-Charak-
teristik, an deren Klarheit
kein dickleibiges Kompen-
dium, kein subtiler Leit-
artikel heranreicht. — Den
ersten Schritt zur ästheti-
schen Abgrenzung des illu-
strativen Gebietes von der
Malerei tat Max Klingers
Schrift »Malerei und Zeich-
nung«. Es war das Ei des
Kolumbus, durch die Tat-
sachen längst vorbereitet
und aus denselben abstra-
hiert. Fast alle ihre allge-
meineren Gesetze hat näm-
lich die Illustration mit der
Graphik gemeinsam und bis
Kamin im Schlafzimmer, auf die neueste Zeit haben

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