Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten (15.1904-1905)

Individuum und Gesamtheit.

hohenzollern-kunstgeWerbehaus—Berlin. Büffet und Speisetisch (Wiener Schule).

ohne Ziel und das wechselnde Vielerlei un-
serer Anschauungen muss helfen, unsere
Unsicherheit zu verdecken. Wir drehen uns
im Kreis, möchten ins Freie. Wir scheuen
uns aber, energisch einmal die ersten Schritte
zu tun. Wie uns überhaupt die Scheu an-
haftet, einen Anfang zu setzen. Und doch
spüren wir deutlich, dass wir um diese Ent-
scheidung nicht herumkönnen.

*

Wir wollen uns nicht entscheiden. Wir
fürchten das Urteil. Ein ungeklärtes Neben-
einander aller in der Welt nur möglichen
Regungen und Werte — das ist die euro-
päische Welt.

Kaum scheint etwas erledigt, gefunden,
gelöst, so erstehen ringsherum alle Dumm-
heiten von früher, die für überwunden gelten
sollten von neuem auf, zu gekräftigtem
Leben. Was wir erleben, ist der Karikatu-

rismus des individuellen Willens. Der Wagen,
der schon munter eine Strecke vorwärts fuhr,
saust zurück und in erneutem Gerede wird
wieder verhandelt. Dann vergeht wiederum
eine Zeit, bis endlich einmal wieder einer
kommt, der ins Freie hinaus möchte. Er
beginnt die Wege vom Gestrüpp zu säubern.
Und kaum ist seine Tat in die Erscheinung
getreten, so erstickt das Neue, Klare, Kluge
schon unter dem Schwall der Mittelmäßig-
keiten. Was uns dann anschaut ist nur ein
Zerrbild des ersten Bildes, das der Sehnsucht
vorschwebte.

Ein verwirrter Knäuel, dessen Fäden
nicht mehr auseinanderzubringen sind —
das ist unsere Kultur. Ein Hin und Her,
ein Stossen, ein Drängen. Die Klugheiten
sind kurzlebig. Unsterblich aber sind die
Dummheiten. Schlage ein solches Untier
tot — es wachsen ihm hundert Köpfe im Nu.

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