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Ephron, Walter; Strzygowski, Josef <Prof. Dr.>; Bosch, Hieronymus [Hrsg.]
Hieronymus Bosch - Zwei Kreuztragungen: eine "planmässige Wesensuntersuchung" — Zürich, Leipzig, Wien, 1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.29309#0089
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Fanden wir sowohl in Bezug auf Rohstoff und Werk, sowie auch auf Ge-
genstand und Gestalt (soweit die Figuren in Betracht kommen) eine äußerlich
fast vöilige Gleichheit der beiden Bilder, die sich nur durch allerdings sehr viel-
sagenden Einzelheiten unterscheiden, so werden wir beim formalen Vergleich keine
solche Gleichartigkeit oder auch nur Ähnlichkeit vorflnden wie bisher. Formal
sind das Mus.-Bild und das Weinb.-Bild zwei vollkommen verschiedene Werke.

Die frontal angeordneten Figuren des Weinb.-Bildes werden nach einem deut-
lich zu erkennenden Massensystem auf der Bildfläche verteilt. Aus dem engen
Stadttor zwängt sich die figurenreiche Christusgruppe in einem starken Bewe-
gungsimpuls nach vorne. Die nur mehr aus fünf Personen gebildete erste
Schächergruppe und die vierfigurige zweite Schächergruppe sind schon am Ort
angelangt und verharren in Ruhe. Die Massenverteilung erscheint wohl abge-
hoben, wenn man das (durch das Herauszwängen begründete) dichte Gedränge
am Anfange der Christusgruppe betrachtet, das noch in dieser Gruppe lockerer
wird, um endlich in den Schächergruppen fortschreitend aufgelöst zu werden.
Wie ein spitz zulaufender Keil erstrecken sich die Figuren von links nach rechts
in den Raum. Die lebhafte Bewegung nach rechts vorwärts und einwärts wird
nicht nur durch die gestaltliche Haltung der Personen gegenständlich anschau-
lich gemacht, sondern auch noch durch eine Reihe formaler Mittel unterstützt.
Die Speere und Lanzen, Leiter, Fahne und Zinken erfüllen alle durch ihre Hal-
tung gegen die Bewegungsrichtung ihre formale Aufgabe. Es wird dadurch
eine Gegenbewegung (Kontrapost) gegeben, ein formales Element, das nach
1500 große Bedeutung in der bildenden Kunst gewinnt. Durch die Gegenbe-
wegung der vielen aufragenden, nach rückwärts gerichteten Spitzen wird die
Bewegung nach vorne in paradoxer, geistreicher Weise verstärkt.

Der aufrechte Speer des Longinus bildet gestaltlich und formal die Grenze
der Bewegung. Von hier an herrscht Ruhe in der Szene. Nicht nur 15 Mann,
also zirka 15 m breit, denkt sich der Künstler diese Strecke vom Stadtturm
bis zum Richtplatz. Er deutet die weit größere Entfernung dadurch an, daß
er die Schächergiuppe weiter nach hinten rückt, und sie, perspektivisch ver-
kürzt, ein wenig kleiner zeigt als die Christusgruppe. Vom Tor bis zum rech-
ten Rand werden die Figuren fortschreitend kleiner. Das vorne liegende, schräg
in den Raum hineinragende Kreuz unterstützt einerseits die keilförmige Rich-
tung nach rechts und andererseits das Weiterrückwärts-Scheinen der Schächer-
gruppe. Durch diese formalen Mittel erreicht es der Künstler, die rechnungs-
mäßig ganz kurze Strecke formal außerordentlich zu verlängern.

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