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Ephron, Walter; Strzygowski, Josef <Prof. Dr.>; Bosch, Hieronymus [Editor]
Hieronymus Bosch - Zwei Kreuztragungen: eine "planmässige Wesensuntersuchung" — Zürich, Leipzig, Wien, 1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.29309#0090
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Am Mus.-Bild, auf dem die Gruppen übereinandergestellt wurden, kommt
dieser formale Wert eines künstlerisch gestreckten Raumes gar nicht zur Geltung.

Durch die Zweiteilung geht auch die biihnenmäßige Wirkung der figuralen
Szenen vollkommen verloren. Um eine solche bühnenmäßige Wirkung handelt
es sich aber zweifellos am Weinb.-Bild. Zu beiden Seiten des Vordergrundes,
der formal das Podium bildet, setzt der Maler rechts den Turm und links in
gleicher Höhe das Kreuz als Proszeniumskulissen. Der dürre Ast, der schräg
nach rechts oben den Bühnenausschnitt gegen den Bildrand begrenzt, findet
seinen Gegenpart in dem Querarm des Hochkreuzes, der nach links oben die-
selbe, den Ausschnitt begrenzende Sofittenfunktion erfüllt. Die Turmbasis mit
dem Gestrüpp unter dem Weinstock links unten sowie die schief gelegte Leiter
rechts unten wirken als Raumschieber in den Vordergrund hinein. Mit solchen
formalen Elementen wird der künstlerische Raum (der ganz unabhängig vom
optisch wirklichen Raum ist) geschaffen und auf dieser formalen Bühne spielt
sich die Szene der Kreuztragung ab. Wir werden später im Inhaltskapitel sehen,
wie sich der bühnenmäßige Aufbau mit dem Wesen Bosch’s deckt.

Am Mus.-Bild ist der bühnenartige Aufbau durch eine gewalttätige Umkom-
position verloren gegangen. Baldaß, der dies irgendwo gefühlt haben muß, führt
nun ein spekulatives Gebäude auf, um über diesen formalen Mangel, das heißt
das Fehlen der formalen Komponente, hinwegzukommen. Er interpretiert in
das Mus.-Bild formale Züge, die aber selbst bei bestem Willen nicht begründet
erscheinen. Baldaß bildet in den „Betrachtungen zum Werke des Hier. Bosch“
unter Abbildung 66 eine südfranzösische Tafel Anfang des 15. Jhdt. aus dem
Louvre ab, darstellend „die Geißelung des heiligen Georg“. Er sagt dazu: „Die
Pariser Tafel enthält alle Wesenszüge des Bildaufbaues von Bosch’s Wiener
Kreuzigung, die Zweiteilung in eine dicht gedrängte obere und eine locker kom-
ponierte untere Hälfte, das in ganz starker Aufsicht gesehene steilansteigende
Terrain-und den schmalen Streifen Himmel, in dem die Lanzen der Söldner
hineinreichen . . . .“

Den höchst seltenen zweistufigen Aufbau des Wiener Bildes vergleicht hier
Baldaß mit der viel früheren französischen Tafel, bei der in einer Hochkom-
position ähnliche zwei Gruppen übereinander gezeigt werden. Doch wirkt der
Vergleich keineswegs überzeugend. Denn die Art eines Vor-Eyckschen primitiven
Nichtbeherrschens der Perspektive, die das Pariser Bild zeigt, kann Bosch, der
die Perspektive recht gut beherrschte, nicht zugemutet werden. Überdies stehen
die beiden Figurengruppen der Louvretafel auf einer einzigen steil aufstei-
genden Bodenfläche (wie dies eben die gotische halb-perspektivische Art der
Raumdarstellung war), während am Mus.-Bild nicht in gotischer Manier ein
ansteigender Boden gegeben ist, sondern durch einen deutlichen Strich in der

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