N“. 63. HEIDELBERGER 1837.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Oer Mifs Grace Kennedy sämmtliche Ti'erke. In sechs Bänden aus dem
Englischen. Berlin, Eichler. 1835. 86.
Die Romane, Novellen und Erzählungen einer in England
berühmten, in Deutschland wenigstens bekannten und anerkann-
ten Schriftstellerin, welche uns hier zum erstenmal gesammelt in
einer guten Übersetzung geboten werden, sind insgesammt didak-
tischer Natur. Damit ist aber der ästhetische Standpunkt für ihre
Beurtheilung nicht ausgeschlossen. Die ächte Muse bleibt Muse,
auch wenn sie nicht mehr das Schöne, das ihre eingeborene Be-
stimmung ist, zum alleinigen Ziele hat, wenn sie mit Selbstver-
läugnung in fremde Dienste treten mufs. Freilich , eine Dienerin
darf nicht ihren eigenen Willen haben* Treue gegen den Herrn
und Gehorsam ist das erste, was von ihr verlangt wird; sie darf
sich nicht gehen lassen, sie darf nicht ihre eigenen Phantasien
haben; das ist aber hart für ein WTesen, dessen ganze Persönlich-
keit auf der Phantasie beruht. Indessen kommt sehr viel darauf
an, wer die Herrin ist, deren Dienstmagd die Muse werden soll:
es giebt gute Hausfrauen, die sich von geschickten und gewand-
ten Mägden etwas gefallen lassen; es giebt einsichtsvolle und gü-
tige, die eine edelgeschaffene Natur in der Dienerin zu erkennen
und sie zur einflufsreichen Freundin , zur Vertrauten des Herzens
zu erheben keinen Ansland nehmen. Endlich leuchten oft die
hohen Eigenschaften einer Dienerin gerade aus der Unterdrückung
am schönsten hervor, und wie man in alten Sagen oft von ver-
bannten Königstöchtern liest, deren angeborene Hoheit sich ge-
rade im erniedrigenden Dienste der Knechtschaft aufs herrlichste
und rührendste dargestellt, so könnte auch die Muse, die Him-
melstochter, im härtesten Dienste ihre göttliche Abstammung
bewähren.
Von allen Herrinnen, denen die Muse dienen kann, sind je-
doch die edelsten, mildesten und eines solchen Dienstes immerdar
würdigen, Religion und Philosophie. Sie kennen die Ebenbürtig-
keit ihrer Dienerin; und was in seiner ursprünglichen und gött-
lichen Wurzel so eins ist, wie Sittlichkeit, Wahrheit und Schön-
heit, kann auch in der endlichen und irdischen Spaltung sich nicht
so fremd geworden seyn , dafs es nicht bei jeder Berührung sich
XXX. Jahrg. 10. Heft. 63
♦
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Oer Mifs Grace Kennedy sämmtliche Ti'erke. In sechs Bänden aus dem
Englischen. Berlin, Eichler. 1835. 86.
Die Romane, Novellen und Erzählungen einer in England
berühmten, in Deutschland wenigstens bekannten und anerkann-
ten Schriftstellerin, welche uns hier zum erstenmal gesammelt in
einer guten Übersetzung geboten werden, sind insgesammt didak-
tischer Natur. Damit ist aber der ästhetische Standpunkt für ihre
Beurtheilung nicht ausgeschlossen. Die ächte Muse bleibt Muse,
auch wenn sie nicht mehr das Schöne, das ihre eingeborene Be-
stimmung ist, zum alleinigen Ziele hat, wenn sie mit Selbstver-
läugnung in fremde Dienste treten mufs. Freilich , eine Dienerin
darf nicht ihren eigenen Willen haben* Treue gegen den Herrn
und Gehorsam ist das erste, was von ihr verlangt wird; sie darf
sich nicht gehen lassen, sie darf nicht ihre eigenen Phantasien
haben; das ist aber hart für ein WTesen, dessen ganze Persönlich-
keit auf der Phantasie beruht. Indessen kommt sehr viel darauf
an, wer die Herrin ist, deren Dienstmagd die Muse werden soll:
es giebt gute Hausfrauen, die sich von geschickten und gewand-
ten Mägden etwas gefallen lassen; es giebt einsichtsvolle und gü-
tige, die eine edelgeschaffene Natur in der Dienerin zu erkennen
und sie zur einflufsreichen Freundin , zur Vertrauten des Herzens
zu erheben keinen Ansland nehmen. Endlich leuchten oft die
hohen Eigenschaften einer Dienerin gerade aus der Unterdrückung
am schönsten hervor, und wie man in alten Sagen oft von ver-
bannten Königstöchtern liest, deren angeborene Hoheit sich ge-
rade im erniedrigenden Dienste der Knechtschaft aufs herrlichste
und rührendste dargestellt, so könnte auch die Muse, die Him-
melstochter, im härtesten Dienste ihre göttliche Abstammung
bewähren.
Von allen Herrinnen, denen die Muse dienen kann, sind je-
doch die edelsten, mildesten und eines solchen Dienstes immerdar
würdigen, Religion und Philosophie. Sie kennen die Ebenbürtig-
keit ihrer Dienerin; und was in seiner ursprünglichen und gött-
lichen Wurzel so eins ist, wie Sittlichkeit, Wahrheit und Schön-
heit, kann auch in der endlichen und irdischen Spaltung sich nicht
so fremd geworden seyn , dafs es nicht bei jeder Berührung sich
XXX. Jahrg. 10. Heft. 63
♦