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Nr. 43. HEIDELBERGER 1858.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.

Düntzer: Erläuterungen zu Göthe’s Werken.
(Schluss.)

Ist nicht der erste Grund von allem Unglück in unserem Ro-
mane, welchen der Dichter eben so dichterisch schön, als psychologisch
wahr entwickelt, die von Eduard und Charlotte ohne wahre
Verwandtschaft der Seelen, ohne herzinnige Neigung geschlossene
Ehe, der zweite, dass, nachdem sie Wesen in ihren häuslichen Kreis
hereingezogen haben, wie Ottilie und den Hauptmann, die mit
ihnen die wahre Seelenverwandtschaft besitzen und mit denen sie im
Sinne und Geiste eines ethischen Princips eine glücklichere und
wahrhaft innige Ehe würden geschlossen haben, sie der in ihrem
Herzen aufkeimenden Neigung nicht widerstehen, sondern sie immer
mehr und mehr sich entwickeln lassen, dass, nachdem sie die in diesem
Nachgeben der Neigung liegende Gefahr erkannt haben, sie wieder
nicht die wahren Mittel zur sittlichen Genesung ergreifen? Ist es
nicht eben so verkehrt von dem andern mit Eduard und Ottilie
wahlverwandten Paare, Charlotten und dem Hauptmanns,
dass auch sie die Neigung in ihrem Herzen immer mehr aufkeimen
lassen, und lange Zeit nichts oder nur Verkehrtes thun, um ihrer
Herr zu werden? Ist dies wohl eine wahre Sühne, ein Opfer der
sittlichen Verklärung, in der Nähe des geliebten Gegenstandes, des-
sen Lieben zum Verbrechen, zum geistigen Ehebrüche wird, immer-
fort trotz der erkannten Gefahr zu verweilen, und im Liebesiech-
thum neben ihm hinzukränkeln und sich zuletzt freiwillig den Tod
zu geben? Die Menschen benützen die in ihnen liegende sittliche
Kraft nicht, und gehen, wenn sie sie nicht benützen, sondern sich
immer nur durch äussere Eindrücke, nie durch die Freiheit des
Willens bestimmen lassen, unter; sie gehen auch dann unter, wenn
sie von Natur treffliche sittliche und geistige Anlagen besitzen —
diese Wahrheit wollen die Wahlverwandtschaften veran-
schaulichen. Das Höchste im Menschen ist der freie Wille, nicht
das Schicksal. Weil sich unser Doppelpaar so gehen liess, wie es
sich im Romane gehen lässt, ist es so geworden. Hätte es sich
nicht so gehen lassen, wäre es anders geworden. Es musste nicht
so werden, wie es wurde, es hat sich selbst so gemacht, durch die
Pässivität, durch den Mangel an Spontaneität. Nicht den „Un-
schuldigen“ mit dem „Schuldigen“ hat das Schicksal „schonungslos
in seinen Strudel gezogen“; sondern jedes de zwei Paare trägt
LI. Jahrg. 9. Heft. 43
 
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