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Sengler: Erkenntnisslehre.

Ganzen mit grösserer Entschiedenheit sich der Autorität des Posi-
tiven und historisch Ueberlieferten wieder zugewandt und in
den letzten zwanzig Jahren noch mehr Scheu nicht nur in der
Theorie, sondern noch mehr in der Praxis vor philosophischen
Köpfen gezeigt, nachdem mehrere derselben die frühere Autorität
des Stifters der christlichen Religion sowohl wie die ältesten Be-
richte über denselben alterirt haben ; die P ä d a g o g i k , von Her-
bert zur Wissenschaft erhoben, von Fichte mit den höchsten
Ideen in Verbindung gebracht, geht zwar in den Volksschulen
immer noch nach Pestalozzi’s Winken methodisch von der An-
schauung aus bei der ihr zum Ziele gesetzten Verstandes-
bildung, sucht sich aber des bisher von der Kirche ihr gebote-
nen idealen Gehaltes zu entäussern und sich auf eigne Füsse zu
stellen, in den höheren Schulen dagegen verfolgt sie zwar
mittels einer erstaunlichen Masse von allerlei Kenntnissen ein
hohes Ziel von Verstandesbildung und sieht auch dabei auf einen
geregelten Religionsunterricht, stebt aber der einseitigeren alten
Schule in so fern nach, als sie nicht nur das non multa sed mul-
tum, sondern auch das spontane Fassungsvermögen, die Indivi-
dualität, die stufenmässige Geistesentwicklung, sowie die Vermitt-
lung der hochgespannten V er st a n d e s bildung mit der christ-
lichen Bildung, kurz: die Hauptwinke einer gesunden Psychologie
im Allgemeinen äusser Acht lässt, welche letztere nicht ohne tieferes
Eingehen in die ganze Philosophie gewonnen werden kann. — Die
der wahren Philosophie treu gebliebenen Jünger ersetzen ihr theil-
weise zwar an Qualität, was sie an der Quantität verlor; aber
von den Staatsgewalten, denen die destructiven Tendenzen
ihrer letzten utopischen Ausläufer gefährlich wurden, haben sie im
besten Falle nur Duldung zu hoffen; nicht mit rationellen Syste-
men, sondern mit der ultima ratio rechnen die Staatsmänner. Von
dem »Volke von Denkern« wenden sich die industriellen und mer-
kantilen Grössen dem raschen Erwerb und splendiden Prachtleben,
die Besitzer der Durchschnittsbildung in Zeitschriften und Vereinen
der »socialen« und andern »zeitgemässen« Fragen zu, deren letzter
Zweck zunächst wenigstens nichts andres als der flüchtige Genuss
ist. Wie und wo kann es da noch eine Andacht für wahre Philo-
sophie geben, die keinen momentanen Eclat beabsichtigt, wie z. B.
»die Philosophie des Unbewussten«, und die nichts gewähren kann
als innere Befriedigung durch Entfernung der Scheidewände zwi-
schen Denken und Fühlen, zwischen Glauben und Wissen, zumal
in diesem Augenblicke, in welchem Deutschland von seinem glor-
reichen Siege über den alten Erbfeind, sowie von seiner dadurch
überraschend schnell zu Stande gekommenen Einigung und deren
Ausbau eingenommen ist, um der kirchlichen Streitfragen hier nicht
zu gedenken. Der jüngst verstorbene Professor der Philosophie zu
Giessen, Dr. Leopold Schmid, der seinei’ Zeit nicht nur oin
Kapitel über den »Misscredit der Philosophie« schrieb, sondern
 
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