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2. Dtnitgsri, Heilig «nä Hin,.

Der Erbe von Kaliwoda.
Eine Geschichte von der polnischen Grenze
von
Moritz von Reichenbach.
(Nachdruck verboten.)
Ich bin in einem Dorf an der
polnisch-schlesischen Grenze geboren und
die erste Vorstellung, die ich von der
Erde gewann, war, daß dieselbe wie
eine Honigwabe aus lauter Zellen be-
stünde, deren Wände aber statt von
Wachs von Waldbäumen gebildet
würden.
Unser Dorf lag mitten in einer
solchen Zelle. Die nächste, ebenfalls
wieder von Wald umgrenzte Lichtung
umschloß den Nachbarort Kaliwoda.
Draußen in der Welt gab es nach
meiner Vorstellung auch noch andere
Dörfer und Städte, aber ich konnte
mir dieselben nur immer wieder von
Waldringen umgeben denken.
Der Wald begrenzte meinen Hori-
zont und jenseits des Waldes lag
ein Märchen, ein zauberhaftes Ge-
heimniß für mich: der Park von
Kaliwoda mit seinem altersgrauen
Schloß. Das war so ganz verschieden
von unserem, im modernen Villenstrfl
neu erbauten Landhaus, und auch
so ganz anders wie dis sogenannten
„Schlösser" auf den polnischen Dör-
fern der Nachbarschaft, die meist nur
eine Fensterreihe ziemlich dicht über
dem Erdboden zeigten und von einem
mächtigen schwarzen Schindeldach über-
ragt wurden.
Das große, viereckige Gebäude,
dessen mit Kupfer gedeckte Eckthürme
sich im Lauf der Jahre glänzend grün
gefärbt hatten, erregte schon früh
meine kindliche Neugierde und wurde
später immer mehr der Gegenstand
meines Interesses. Durch ein ver-
fallenes Seitenpförtchen der Park-
mauer, das in den Wald mündete,
schlüpfte ich ost hinein und durchlief,
von allerhand märchenhaften Schauern
durchschüttclt, die verwilderten An-
lagen. Aus dem grüuen Geranke
der überall wuchernden Brombeer-
sträucher blickten weißgraue Steinbil-
der, deren eigentümlichen Reiz es
nach meiner Ansicht nicht verminderte,
daß ihnen ab und zu Arme und
Nasen fehlten, und in den verfalle-
nen Steingrotten hausten buntfleckige
Zllust". Welt. XXV7. L.


Dks Bilderbuch. Gemälde von Franz Defregger. (S. 38.)

Salamander und träge Schnecken, die
mir wie eine Art verwünschter Prinzen
erschienen. Das Seltsamste aber blieb
das Schloß mit seinen dichtverhan-
genen Fenstern und stets geschlosse-
nen Thüren. Der Haupteingang
wurde von einem gräflichen Wappen
überragt. Hinter den Kronenzacken
desselben nistete ein Schwalbenpaar
und zwischen den Fenstersimsen mit
ihren schnörkelhaften Verzierungen
hingen die Spinnen ihre Netze auf.
Das waren aber auch die einzigen
lebenden Wesen, die ich in der
Nähe des Schlosses entdecken konnte,
denn der Wirthschaftshof und das
Pächterhaus lagen weit ab. Die Leute
sagten: der Herr sei immer verreist,
„in England oder Italien oder dort so
herum". Sie schienen dabei nichts
Wunderbares zu finden, ich aber war
überzeugt, daß in dem Schloß Feen
und Zauberer ihr Wesen trieben und
daß sich einmal etwas ganz Außer-
ordentliches damit begeben würde.
Wenn ich später auf Ferien nach
Haus kam, besuchte ich jedesmal den
Park von Kaliwoda, und als sich
allmälig der Feen- und Zauberer-
glauben verlor, träumte ich die
wunderbarsten Romane in der grünen
Parkwildniß und machte mir die
abenteuerlichsten Vorstellungen von
dem Besitzer des verwünschten
Schlosses, der nach Einigen ein vor-
nehmer Herr, nach Anderen ein Jude
oder gar ein Zigeuner sein sollte.
Da, eines Tages fand ich die
Fenster des Schlosses von ihren Vor-
hängen befreit und das Portal ge-
öffnet. Der Besitzer war zurückgekehrt
und die Gerüchte von dem „Juden"
und „Zigeuner" verstummten, man
sprach nur noch von dem Grafen
Larinsky. Mein Märchen schien sich
in alltägliche Prosa aufzulösen.
Dennoch verlor der Park nichts
von seiner Anziehungskraft für mich,
und eines Abends, von einem längern
Spaziergang zurückkehrend, konnte
ich der Versuchung nicht widerstehen,
durch das kleine Pförtchen, an dem
ich gerade vorüberkam, einzutreten
und die mir lieb gewordenen Plätze
nochmals aufzusuchen.
Es war ein warmer Augustabend
und das Mondlicht verlieh den alten
Baumriesen und den ehrwürdigen
Steininvaliden des Parkes einen
doppelten Reiz. Träumerisch rauschten
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