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19. Lest.

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Die Kröschkeicherin.
Novelle nach einem englischen Stoss
Von
A d i o o.
(Schluß.)
Drittes Kapitel.
Bergab.
Ein schöner Frühlingstag. Drosseln
sangen in dem alten Baumstrunke, von
welchem aus Ernest's Boot dem Verderben
zugeeilt war, und von den Ulmen höher am
Flusse droben antworteten die Amseln mit
ihren volleren, reichen Tönen. Die Wiesen
unterhalb des Falles waren ganz goldig
von Butterblumen und die Rosen stillten
das große Haus mit einem Duste, welcher
gleichsam der Athemzug des Frühlings war.
Der Squire und sein Weib waren eben
nach Hause gekommen und die Schönheit
und der Frieden dieses Heims erfüllten ihre
Herzen mit einer Ruhe und einem Dank-
gefühle, welche die passendsten Attribute
eines solchen Tages und einer solchen Szene
sind, und gleichsam die Vorbereitung bilden
für die lange Reihe friedvoller und froher
Jahre, welche noch vor ihnen liegen.
Waren dieß die Gedanken Nora's, wie
sie zwischen den Rosen saß, ihres Knaben
zarte Wange an die eigene gedrückt, wäh-
rend sein kleiner, lächelnder Mund den
einen Namen flüsterte, der ihr eine süßere
Musik schien, als selbst der liebliche Gesang
der Vöglein im Himmelsblau droben?
Und waren dieß die Gedanken des
Squires, wie er das Bild da vor ihm be-
trachtete, bevor er sich in den Arm seines
Sohnes einhängte, um mit ihm Alles auf
dem Gute wieder zu besichtigen. Und mann-
haft wahrlich war Drury geworden, weise
hatte er Alles geleitet während der Ab-
wesenheit des Vaters, und praktisch und
geschickt war er geworden in Allem. Kein
Schatten war an ihm und in ihm, außer
vielleicht jenem Schatten der Erinnerung
an seinen Zwillingsbruder, der sich in
Gegenwart Nora's stets doppelt zu ver-
dichten schien.
Eine lange Stunde schlenderten Vater
und Sohn umher, der Vater Alles lobend,
was der Sohn gethan, und der Sohn froh
und stolz über dieß Lob. Erst wie sie wie-
der im Hause angelangt waren und auf
Miß Macnair und Nora warteten, kamen
sie auf ein Thema, welches Mr. Sutton
bisher sorgfältig vermieden hatte. Und da
war es, daß ein plötzliches Weh im Herzen
Jllustr. W-lt. xxvi. io.


Die Erbschleicherin. Der verspätete Brief. (S. 458.)

den Squire daran erinnerte, daß die bittere
Saat einst ausgestreut worden war.
Er konnte sich später nimmer erinnern,
was damals gesagt worden war — nichts
Positives, so viel wußte er; gewiß war
nur, daß ihm ein Schatten zu fallen schien
auf die sonnige Schönheit seines Heims,
und daß derselbe selbst dann nicht weichen
wollte, als Nora eintrat und auf ihn zu-
kam iu all' ihrer mädchenhaften Hellherzig-
keit und Frische.
Von dieser Stunde an wucherte der
böse Same in ihm; und so edel und tapfer
er auch denselben auszurotten suchte, so treu
er dem Glauben an die makellose Unschuld
seines Weibes blieb, so genügte doch schon
das Bewußtsein, daß die Saat bestehe,
um allgemach die ernste Natur des Mannes
zu trüben und sein hübsches Gesicht älter
und sorgendurchfurcht zu machen.
So verblich mit der Zeit der wohl-
thuende Einfluß wieder, den der vorüber-
gehende Aufenthalt in der Fremde gebracht
hatte; Nora's kurzlebige Frohsinnsfarbe
welkte wieder dahin, ihr Gang verlor seine
Leichtigkeit und der alte trübe Blick stahl
sich wieder in ihr Auge.
„Miß Macnair," sagte sie eines Tages
leise, als dieselbe in das Kindszimmer trat
und sie da sitzen sand, allein mit ihrem
kleinen Knaben, „Miß Macnair, möchtest
Du mir nicht etwas sagen — etwas, dessen
mein Gatte nie Erwähnung thut und um
was ich — um was ich Drury lieber nicht
fragen möchte?"
„Was ist's?" fragte die ältere Dame
in dem kalten Tone, an den sich Nora seit
dem Tode Ernest's hatte gewöhnen müssen.
„Ist — ist nichts weiter gesagt worden
darüber, daß Ernest's Tod -— o, Du ver-
stehst mich wohl, was man damals nach
der Aufnahme des Thatbestandes munkelte
— daß Ernest's Tod absichtlich herbeigeführt
worden sei?"
„Darüber gesagt worden!" wiederholte
Miß Macnair, starr vor sich hin schauend.
„Was sollte noch mehr darüber gesagt
werden, da Alles ganz klar am Tage liegt."
„Klar am Tage liegt!" rief Nora be-
stürzt, während sie ihr Gesicht über ihr
Baby neigte, ohne dadurch ihre plötzliche
Röthe verbergen zu können. „Was sollte
noch an den Tag kommen können?"
„Nun, wenn cs nicht geschieht," sagte
Miß Macnair laut, wie sie aufstand, „dann
werden Einige mit einer Sünde auf dem
Gewissen sterben, die ihnen die Thore des
Himmels für ewig verschließen wird. Was
starrst Du so, Kind; kommst Du zum Früh-
stück?"
„Nicht gleich," stammelte Nora, den
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