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Der Kitt ums Glück.
Sportroman
von
Wilhelm Weyer-Jörster.

Zehntes Kapitel. 4
Frühling war gekommen, nicht nur nach
^6« Nizza, sondern auch nordwärts über die
Alpen. In Charlottenburg hatten die Rennen
begonnen, und ans einen regnerischen April
folgte der lieblichste Mai. Draußen in Werder blüh-
ten die Kirschen, die der preußischen Eisenbahn-
verwaltung alljährlich ein gutes Stück Geld ein-
bringen. Vom Potsdamer Bahnhofe zu Berlin geht
dann Zug auf Zug, um die Großstädter nach dem
kleinen Havelstädtchen hinaus zu befördern. Da schwel-
gen sie, groß und klein, in frischer Luft und Früh-
lingsstimmung, trinken den berauschenden Johannisbeer-
wein und kehren heim mit großen Blütenzweigen, die
man in Werder billig kauft, und die einen leisen Hauch
von Lenzfreuden in, die dunkelsten Höfe der Haupt-
stadt tragen.
Und in diesem Jahre waren auch Griottes draußen
gewesen. Wie das kam und möglich war, nach einem
so ärmlichen Winter, in dem nian fasten und frieren
gelernt hatte, das schien Mutter und Tochter noch tage-
lang nachher wie ein Märchen, das man gar nicht recht
glauben kann.
Es war eines Abends, als Griotte in einer glän-
zenden Stimmung nach Hause kam.
„Erschrick nicht," sagte er zu seiner Frau„ „wenn
ich dir sage, daß uns große Dinge bevorstehen. Sammle
dich, liebes Kind, denn du hast schwache Nerven."
Ja, diese Einleitung war notwendig. Bei den
ersten Worten schon war Frau Griotte blaß geworden,
sie zitterte und mußte sich sehen. Wie dem Verhungern-
den die Nahrung sorgfältig in kleinen Raten gegeben
werden soll, so mußte eine freudige Nachricht nach so
langen jämmerlichen Jahren ihr vorsichtig übermittelt
Werden.
„Also ich erzähle der Reihe nach," sagte Griotte.
„Es war heute mittag, und ich stehe vor dem Theater
und gähne. Wir hatten Probe zu diesem verdammten
.Hexenkönig', in dem ich genau zwanzig Worte zu
sagen habe, und wahrhaftig, mir war so hundsjämmer-
lich zu Mute wie in meinem ganzen Leben nicht. Links
neben mir steht Lenz, rechts die Graßkopf, und an der
andern Seite neben dem Zigarrenladen der Direktor.
Er schwatzte mit Melms, und wir andern standen und
glotzten auf die Straße. Ich hatte fürchterlichen Appetit,
denn die Stulle hatte ich schon um zehn Uhr aufgegessen.
Und wenn ich Hunger habe, muß ich gähnen, immer-
fort, es ist schauderhaft.
„Da Plötzlich höre ich rufen: ,He, Griotte!'
„Hält vor dem Theater eine Equipage und sitzt ein
Herr drin, der mir winkt: ,He, Griotte!'
„Und wer war es?
„Der Bengel, der Konrad!"
Annie war aufgesprungen.
„Konrad?"
„Ja, im Cylinder und fabelhaft elegant.
„.Griotte', sagt er, .mein Gott,' sagt er, .kennen
Lllusti. Welt. 1808. 4.



Tie Rast. Nach dem Gemälde von C. Grob.

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