Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


M

Der Lrresenpastor

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

sälligste wurde mir schon zu Ende voriger Woche das
Auftauchen eines rätselhaften Fremden im Pastorat
zu Holby bezeichnet, der sich unter einem nicht ganz
glaubwürdigen Vorwande längere Zeit dort aufgehalten
und angeblich gearbeitet, jedoch die Tage ausschließlich
zu ausgedehnten Streifereien durch die Gegend und
zu Besuchen bei den Freunden und Nachbarn des

Advokat Labori fordert den Oberstaatsanwalt zmn Einschreiten gegen die Ausdrucksweise des Zeugen Gonse auf.
Scene aus der Gerichtsverhandlung des Zola-Prozesses. (Text S. 420.)
Orrginalzeichnung von Louis Malteste.

Pastors verwendet und nur die Nächte hindurch zu
der vorgegebenen Arbeit benutzt habe. Da aus dem
Namen des Fremden ein Geheimnis nicht gemacht
wurde, der Herr vielmehr selbst auf seinen Karten
sich offen als Gymnasial-Professor a. D. und Hofrat
Georg Engel aus Altona bezeichnete, so hielt ich es
für angebracht, durch eine Nachfrage heim Einwohner-
melde-Amt in Altona genauere Erkundigung einzuziehen
und mit dieser eventuell dem immer größere Dimen-
sionen annehmenden Klatsche wirksam entgegenzutreten.
Gegen Erwarten ist die amtliche Auskunft dahin aus-
gefallen, daß die Einwohnerliste eine Person des an-
geführten Namens und Standes nicht verzeichnet! Und
nun erscheint wohl die Frage gerechtfertigt, wer au
dem ". ""
ein
an

Kriminalroman
von
Dietrich Fheden.

später eine Zeitungsnachricht, die unter der
„Zum Falle des Friesenpastors" eine
sensationelle Enthüllung brachte. Die
Nachricht war einem Berliner Blatte
entnommen, machte die Runde durch
die gesamte deutsche Presse und wurde
selbstverständlich von den Blättern
Schleswig-Holsteins mit ganz beson-
derem Interesse nachgedruckt. Sie
lautete wörtlich:
„Zum Falle des Friesenpastors,
über den wir bereits wiederholt be-
richtet haben, wurde uns von unserm
Tonderner b" - Mitarbeiter bereits
gestern eine telegraphische Nachricht
übermittelt, deren Aufnahme wir nur
beanstandeten, um die gleichzeitig an-
gekündigten brieflichen Ausführungen
unsers Berichterstatters abzuwarten.
Die eingehenden Darlegungen unsers s
^-Mitarbeiters sind nun in später
Nachtstunde eingetroffen, und sie ab-
zudrucken, tragen wir nunmehr um
so weniger Bedenken, als alle Nach-
richten über den sensationellen Fall
des Pastors Johannsen für die weite-
sten Kreise von Interesse und die
vorliegenden von um so größerem
Werte sind, je weniger ihnen nach
dem Verlaufe des Prozesses eine ge-
wisse innere Wahrscheinlichkeit ab-
gesprochen werden kann. Unser I'-
Mitarbeiter, der sich bisher als durch-
aus zuverlässig und vorsichtig erwiesen
hat, schreibt uns: ,Die Begnadigung
des wegen Mordes zum Tode verur-
teilten Pastors Niels Johannsen von
Holby hat in Nordschleswig eine um
so lebhaftere Befriedigung erweckt,
als die Bevölkerung in der unge-
wöhnlich begrenzten Zuchthausstrafe
mit Recht oder Unrecht ein An-
zeichen dafür erblickt, daß auch an allerhöchster Stelle
gewisse Zweifel in die Richtigkeit des Urteils sich
nicht haben beseitigen lassen. Neue Nahrung wird
dieser Mutmaßung durch Gerüchte zuaeführt, die hier
seit einigen Tagen umgehen, mit jeder Stunde sich
erweitern und die Gemüter bis zum Sieden erhitzen.
Thatsache ist, daß, obwohl seit Eintreffen des Gnaden-

^MchLie Kabeldepesche „Erbschaft erhoben. Brown",
die Pach kurz vor der Abfahrt von New Aork
aufgab, traf noch am gleichen Tage in Ton-
dern ein und ließ die sehnsüchtig wartenden
Verlobten stürmisch aufjubeln.
Bestürzt dagegen las vr. Dürhus wenige Tage
" .Spitzmarke

Aufenthalt in Holby unter der falschen Vorgabe
Interesse haben konnte, erscheint auch der Zweifel
dem angeblich von dem Pastor Johannsen ver-
faßten theologischen Werke berechtigt,
das der Professor einer letzten Durch-
sicht zu unterziehen beauftragt sein
sollte und von dessen Vorhandensein
niemand selbst unter den vertrautesten
Freunden Johannsens etwas wußte.
Wer also war dieser Professor Engel?
Die Bevölkerung hat eine Erklärung
zur Hand, die sich jetzt nicht ohne
weiteres abweisen läßt: Die Titel
Professor und Hofrat des angeblichen
Engel waren so wenig echt, wie sein
Name; sie dienten lediglich zur Mas-
kierung, und unter der harmlosen
Maske verbarg sich ein durchaus nicht
harmloser Kriminalbeamter! Ein
Einziger in Tondern vermöchte jeden-
falls Aufklärung zu geben: der Ver-
teidiger des verurteilten Geistlichen,
Rechtsanwalt vr. Dürhus, mit dem
der geheimnisvolle Fremde nachge-
wiesenermaßen in regem Verkehr ge-
standen hat. Tie Befragung dieses
Herrn bliebe aber natürlich so ver-
geblich, als wenn man die Staats-
anwaltschaft in Flensburg interpellie-
ren wollte, und so bleibt zur Zeit
nichts übrig, als der weiteren Ent-
wicklung der Dinge in Geduld ent-
gegenzuharren und als gewissenhafter
Beobachter höchstens die Gerüchte zu
verzeichnen, die auf schwankender,
unkontrollierbarer Grundlage sich auf-
bauen, der Wahrheit aber doch mög-
licherweise mehr oder weniger nahe
kommen. Als ein solches Gerücht
verzeichne ich die neuerliche, Aufsehen
erregende und bereitwillig Glauben
findende Nachricht, daß noch ein
zweiter Beamter unter wieder andrer
Maske in Holby sich aufgehalten und
wichtige Entdeckungen gemacht haben soll. Bald nach
dem spurlosen Abgänge des -Professors" ist auch der
zweite Fremde, der sich einen weit niederern Stand
beigelegt hatte, aus Holby verschwunden und bisher
nicht wieder aufgetaucht. Ein weiteres Gerücht will
wissen, daß der ermordete Peter Skagen von einem
heimlich ins Pastorat gedrungenen Dritten erschlagen

erlasses bereits vierzehn Tage vergangen sind, der
Strafantritt und die Ueberführung Johannsens ins
Provinzialzuchthaus immer noch nicht verfügt, jedenfalls
noch nicht erfolgt ist. Erscheint diese Verzögerung
immerhin auffällig, so verleitet sie die fest zu Johannsen
stehende nordfriesische Bevölkerung geradezu zu der
Hoffnung, daß der Strafantritt des Geistlichen über-
haupt nicht stattfinden, vielmehr in aller Stille von
der Behörde nach Gründen für die Erneuerung, be-
ziehungsweise Wiederaufnahme des Verfahrens gesucht
werde. Es entzieht sich zur Stunde jeder Kontrolle,
ob und wie weit dieser Hoffnung bisher greifbare
Thatsachen zu Grunde liegen. Verschiedenen Vorgängen
innerhalb der kleinen Gemeinde Holby wird jedoch
eine symptomatische Bedeutung beigelegt, und es läßt
sich nicht leugnen, daß einige derselben einer näheren
Erklärung recht bedürftig erscheinen. Als das Auf-

Jllustr. Welt. I8S8. 18.

54
 
Annotationen