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302

Wo hatte er es gelesen? Er wußte es nicht. Aber
es waren die Liebesworte eines Poeten, der sie seiner
kranken, sterbenden Braut gewidmet. Er sann, und
die Verse, die er nur einmal gelesen hatte, traten ihm
ins Gedächtnis:
„Du ruhtest müd', gefaßt,
Dein süßes Angesicht
In Schmerz und Leid erblaßt.
Doch klagtest du mir nicht."
Auch er war müde, und Helge, sein armes Kind,
würde müde sein, und wenn die Klage in ihrem Herzen
nicht lauten Ausdruck sand — auf ihrem blassen,
weichen Gesichte, in ihren leidverdunkelten Augen würde
sie zu lesen sein.
„Dein Blick nur fragend sprach:
,Sag mir, liebst du mich doch,
Mich, die ich krank und schwach,
Die nur ein Schatten noch?'"
Und in seinem Herzen schrie es auf: Liebst du
mich doch, mein Kind, mich, der ausgestoßen ist als
einer, über dessen Haupt die Schande schwebt, und der
niemals wieder wird, was er einst gewesen? Mich,
der in der Kraft seiner Jahre gegangen ist und der
Heimkehrer: wird als ein Greis, gebrochen an Körper
und Seele, an Glauben, Lieben und Hoffen? Liebst
du mich doch?
„Ich liebe ewig dich!
Gehör' dir ewig zu!
Komm, schling den Arm um mich,
Mein Glück, mein alles du!"
Er flüsterte es vor sich hin, sah, ohne zu erkennen,
aus die wirbelnden Flocken vor dem Fenster und strich
sich mit der abgemagerten Hand über die heiße Stirn.
Er kannte sein Kind, und das Vertrauen beflügelte
seine Gedanken, daß alles doch noch enden könne nach
Hoffen und Wünschen. Freilich: der Poet, der auch
gebangt und gehofft haben mochte gleich ihm, der hatte
still resignieren müssen. Seine Verse klangen aus in
die schmerzliche Entsagung:
„Du gingst von mir... Ich blieb . . .
Ich nick' den Sternen zu:
Leb wohl, mein armes Lieb,
Mein Glück, mein alles du!"
„Herr Pastor, es ist so weit," klang es rauh an
das Ohr des Träumenden.
Es ist so weit!
Der Tag der Hauptverhandlung vor den Ge-
schworenen ist da — die Entscheidung ist nahe, die
lang ersehnte. Was wird sie bringen? Was sic
bringen muß: Wahrheit und Klarheit, Licht und Luft,
Heimat uud Freiheit? — Oder aber. . .? Oder. . .?
Der Schwurgerichtssaal war bis auf den letzten
Platz gefüllt. Die Freunde des Angeklagten, die aus
der Heimat herbeigeeilt waren, zuckten trauernd zu-
sammen, als sie den gebeugten Mann eintreten sahen,
der noch vor kurzem trotz reifer Jahre so blühend
kraftvoll gewesen war.
Johannsen war bleich, seine Augen waren dunkel
umrandet. Langsam, schwerfällig näherte er sich am
Arme Ernst Dürhus' der Angcklagtenbank. Er stützte
sich auf die Barriere, und groß, offen schweifte sein
Blick durch den Raum, die Menge umfassend, ohne
des einzelnen zu achten.
Der Gerichtshof trat ein, und die Verhandlung
begann.
Die Anklage lautete auf Mord.
„Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn
er die Tötung mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegeu
Mordes mit dem Tode bestraft." So sagt kurz der
Paragraph 211 des Strafgesetzbuches, der erste und
schwerste des die „Verbrechen und Vergehen wider das
Leben" behandelnden Abschnittes. Diesen hatte der
Staatsanwalt für zutreffend erachtet und seine Auf-
fassung in der umfangreichen Anklageschrift eingehend
begründet.
Nach Ausrufung der Zeugen und Sachverständigen,
Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen
Verhältnisse und Verlesung des Beschlusses über die
Eröffnung des Hauptverfahrens, schritt der Vorsitzende
zum Verhör des Angeklagten und sprach zunächst die
Frage nach seiner Schuld aus.
Johannsen erwiderte mit einem leisen, bestimmten
„Nein."
„Waren Sic in der Nacht vom 16. zum 17. Juni
vorigen Jahres, in der das Verbrechen begangen
wurde, im Pastorat anwesend?" fragte der Vorsitzende.
„Ja."
„Wie haben Sie die Nacht verbracht?"
„Ich habe geschlafen."
„Von welcher Stunde an?"
„Wie gewöhnlich von neun Uhr an."
„Bis wie lange?"
„Bis früh um sechs."
„Ununterbrochen?"
„Ja."
„Wer war außer Ihnen im Hause zugegen?"
„Peter Skagen."
„Wann haben Sie diesen zuletzt gesehen?"

Illustrirte Welt.

„Zwischen sieben und acht, bei Zuweisung des
Abendbrotes."
„Wo war Ihre Tochter?"
„Bei ihrer kranken Freundin Duwe Ingwers."
„Die Anklage behauptet, daß die Abwesenheit Ihrer
Tochter keine zufällige, sondern eine von Ihnen mit
Berechnung herbeigeführte war."
„Die Anklage irrt." Johannsen wies auf die
Freundschaft hin, die zwischen der Tochter und der
Kranken bestand und die nicht bloß die erstere, son-
dern auch ihn selbst mit Besorgnis erfüllt habe.
„Ihre Tochter ist die ganze Nacht ferngeblieben?"
„Ja."
„War das auch früher schon vorgekommcn?"
„Nein. Es war eine Ausnahme."
„Finden Sie es nicht auffällig, daß dieses ganz
außergewöhnliche Fernbleiben Ihrer Tochter gerade
mit dem rätselhaften Verschwinden des Skagen zu-
sammentrifft?"
„Ja und nein. Der alleinige Grund der Ab-
wesenheit meiner Tochter war der nnheildrohende
Sturnr, der, ich wiederhole das, uns für die Kranke eine
ernste Verschlimmerung ihres Zustandes fürchten ließ."
„Der Sturm hat sich aber doch bald gelegt —
warum kehrte Ihre Tochter nicht dann noch heim?"
„Sie hat die Nacht am Lager der Kranken ge-
wacht; was wir gefürchtet hatten, war eingetreten,
ehe mein Kind es hindern konnte."
„Sic konnte die Kranke beruhigen?"
„Ja, Herr Präsident; aber wenn sie nichts hätte
thun können, als auf den Arzt warten, und tröstend
den Eltern zur Seite steheu — sie hätte ausgeharrt
nach ihrer Pflicht."
„Wann kau: Ihre Tochter heim?"
„Um halb sieben."
„Sie waren bereits wach?"
„Seit einer halben Stunde."
„Sie hatten sich also um sechs erhoben?"
„Ja."
„Standen Sie immer um diese Zeit auf?"
„Nein, um fünf, ich hatte ausnahmsweise die Zeit
verschlafen."
„Schon wieder eine Ausnahme, und ausgesucht in
dieser verhängnisvollen Nacht. Die Anklage schließt,
daß der Schlaf über die gewohnte Zeit hinaus seine
Begründung in der ungewohnten nächtlichen Arbeit
hatte."
„Von einer nächtlichen Arbeit weiß ich nichts."
„Das ist, unter Umständen, vorsichtig ausgedrückt."
„Jedenfalls nicht scharf verneinend. Ich bitte um
Verzeihung, ich hole das Versäumte sofort nach: ich
habe keinerlei nächtliche Arbeit verrichtet."
„Ich werde Ihnen durch die Zeugen nachher die
Unwahrheit Ihrer Aussagen nachweisen!" Die Stimme
des Vorsitzenden klang zum ersten Male ablehnend
und streng.
„Ich kenne die Zeugen als Menschen," erwiderte
Johannsen, „denen die Lüge fremd ist, und ich ver-
traue, daß ihren bisherigen Aussagen ein Irrtum zu
Grunde liegt, der ihre belastende Kraft zerfallen läßt."
„Wir werden sehen. — Wann haben Sie den
Peter Skagen in Ihr Haus ausgenommen?"
„Ich habe die Monate nicht gezählt. Er war ein
Armer, der kein andres Hein: sein nennen konnte, nnd
den ich aufnahm, wie ich mein Haus jedem andern
offen gehalten hätte."
„Warum überwiesen Sie ihn nicht in das Armen-
haus?"
„Das Brot im Armenhause schmeckt bitter. Ich
handelte nach dem Schristsinn: wer zwei Röcke hat,
gebe dem, der keinen hat."
„Sie sind nicht wohlhabend, und Ihr Einkommen
war mäßig. Sie unterstützten auch noch andre Glieder
Ihrer Gemeinde: da mußte die Mehrbelastung Ihres
Etats Ihnen fühlbar werden?"
Johannsen verneinte und fügte ernst hinzu: „Brot
und Salz reichen weit, wenn man selber mit ißt, und
die Mitch im Keller geht nicht aus, wcnu der Wein
sie nicht verdrängt."
„Konnte der Bruder Ihres Pfleglings, der Groß-
bauer Dierk Skagen, Ihnen nicht eine Vergütung
zahlen?"
„Ich habe nicht nach Lohn verlangt. Wohlthun
wächst schlecht, wenn cs Saat geben soll."
„Hat der Peter Skagen sich Ihnen in irgend einer
Weise nützlich erwiesen?"
„Er hat viele der gröberen Arbeiten des Haus-
halts besorgt und sich sein Brot verdient, soweit cs
in seinen Kräften lag."
„Ter Bursche war im Hause seines Bruders arbeits-
scheu und unnütz ; hat er sich bei Ihnen willig gezeigt?"
„Meistens, ja. Zuweilen war er störrisch "und
widersetzlich."
„Bei solchen Gelegenheiten sollen Sie sich haben
hinreißen lassen, den Mann zu züchtigen?"
„Ja."
„Haben Sie auch am Tage seines Verschwindens
die Hand gegen ihn erhoben?"

„Ja."
„Welche Veranlassung hatten Sie dazu?"
Johannsen erzählte kurz.
„DieBegründung erscheint als eine äußerst dürftige,"
fiel der Staatsanwalt ein. „Oder mehr als das: sie
ist unwahrscheinlich. Man vergegenwärtige sich genau
die beiden Personen: ein dummer, blöder, seiner Be-
schränkung wegen unverantwortlicher Bursche der eine,
ein gebildeter, hochintelligenter, reifer, noch dazu dem
durch Selbstbeherrschung und bedächtige Erwägung
ausgezeichneten geistlichen Stande angehörender Mann
der andre! — man vergleiche ferner die Spielerei mit
den Rosen als Ursache und die derbe Mißhandlung
mit dem Spaten als Folge — und man wird wohl
unabweislich zu der Ueberzeugung kommen, daß die
Gegensätze in den Personen und Handlungen zu schroffe
sind, als daß sie möglich erscheinen sollten."
„Geben Sie zu, daß Sie Ihren Pflegling mit einem
Spaten mißhandelt haben?" fragte der Präsident.
„Ja."
„Ein Spaten ist aber doch ein gefährliches In-
strument?"
„Ich habe in der Aufwallung nach dem ersten
besten Gegenstand gegriffen, der zur Hand war."
„Haben Sie einmal oder wiederholt geschlagen?"
„Ich glaube wiederholt."
„Wie oft?"
„Das weiß ich nicht."
„Haben Sie gesehen, wohin die Schläge getroffen ?"
„Ja, einer leider gegen den Kopf."
„Mit der Schneide?"
„Nein, flach mit der Breitseite."
„Welche Wirkung übte der Schlag aus?"
„Peter Skagen warf sich heulend auf die Erde,
hielt sich den Kopf und stieß mit den Füßen nach
mir."
„Der Getroffene ist aber nicht liegen geblieben,
sondern hat sich wieder erhoben und ist ins Haus
gegangen?"
„Ja."
„Sie wollen ihn zum Abendbrot noch wiedergesehen
haben: Haben Sie eine Verwundung an ihm bemerkt?"
„Nein."
Der Präsident wandte sich an die ärztlichen Sach-
verständigen :
„Herr Kreisphhsikus, hätte die an dem Toten kon-
statierte Verletzung dem Angeklagten sichtbar sein
müssen?"
Der Physikus bejahte entschieden.
„Haben Sie, Angeklagter, im Verlaufe des Abends
noch einen weiteren Streit mit dem Skagen gehabt?"
„Nein."
„Es ist Ihre Ueberzeugung, daß der Schlag, den
Sie zugestehen, den Tod des Skagen nicht herbei-
geführt hat?"
„Das weiß ich bestimmt."
„Ich komme zu den Vorgängen der Nacht. Die
Nachgrabung an Ort und Stelle hat zu dem — ich
darf sagen: überraschenden — Resultat geführt, daß
der Totgesagte thatsächlich in Ihrem Garten und
genau an der von den Zeugen bezeichneten Stelle auf-
gefunden wurde. Da die Leiche ein Jahr in der Erde
gemodert hatte und die Verwesung bis auf die Knochen
fortgeschritten war, war die Untersuchung bei der
Feststellung der Identität auf äußere Merkmale an-
gewiesen. Sie sind unterrichtet, daß diese äußeren
Kennzeichen die Identität des Toten mit dem Ver-
schollenen in jeder Weise zn beglaubigen geeignet sind.
Wollen Sie trotzdem gegen die Rekognition Bedenken
erheben?"
„Nein."
Ernst Dürhus bemerkte ruhig: „Die Verteidigung
wird solche allerdings geltend machen."
„Anerkennen Sie die Identität des Toten," fuhr der
Präsident fort, „so bestätigen Sie zugleich das Ver-
brechen des Mordes, denn wäre der Skagen eines natür-
lichen Todes gestorben, so hätte er seine Ruhestätte
naturgemäß auf dein Friedhöfe gefunden. Aus dem
Fundort der Leiche folgt nach der Anklage, daß dieser
ringsum abgeschlossene Raum auch der Thatort war,
und aus dem Thatort, an dem Sie allein anwesend
waren, daß auch Sie allein die That vollführen konnten.
Ich frage Sie: daß Peter Skagen außerhalb Ihres
Hauses getötet uud von fremder Seite zur Ablenkung
des Verdachtes in Ihren Garten geschafft wurde, halten
Sie wohl selbst nicht für möglich?"
„Ich weiß nicht," sagte Johannsen, auf den die
Beweiskraft der richterlichen Argumente wahrhaft er-
drückend wirkte.
„Ich frage bestimmter: halten Sie ein Glied Ihrer
Gemeinde des in Frage stehenden Verbrechens für
fähig und hegen Sie irgend einen Verdacht?"
„Nein, weder das eine noch das andre."
„Mutmaßen Sie, daß ein Fremder sich des Ver-
brechens schuldig gemacht haben könnte?"
„Ich habe auch dafür keinen Anhalt."
„Pflegte Peter Skagen nach Einbruch des Abends
überhaupt noch Ihr Haus zu verlassen?"
 
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