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IllnKrirte Welt.
Pastorei anhalten lassen, um mit dem Freunde, den
er seit einigen Wochen nicht gesehen, seine Ansichten
über die jüngsten Ereignisse anszutauschen."
„Nun, was ist denn? Sie sehen ja schlecht aus!"
waren übrigens die ersten Worte, mit denen auch er
den aus der Kirche Hcimkehrenden begrüßte.
„Doktor, ich fühle mich auch schlecht ! Die Ereig-
nisse der Zeit lasten zu schwer ans mir."
„Wie denn?" meinte der Doktor mit einem schwa-
chen Versuche zu scherzen, „gerade ihr hier in Blexen
habt ja schon einen recht anerkennenswerten Anlauf
genommen, den Ereignissen der Zeit eine Wendung
zum Besseren zu geben."
Der Prediger machte eine abwehrende Handbe-
wegung. „Das ist über uns gekommen — man kann
sagen, ohne unser Zuthun! Für uns hängt jetzt alles
davon ab, welche Haltung die Franzosen einnehmen.
In Oldenburg hat man geglaubt, schon völlig mit der
Fremdherrschaft fertig zu sein, man hat jubiliert und
illuminiert und das Bild des Herzogs in den Fenstern
aufgestellt. Heute morgen aber erhalte ich einen Brief
aus Bremen mit der niederschmetternden Nachricht! der
Präfekt, Graf Arberg, habe die von seinem Unter-
präfekten eingesetzte Administrativ-Kommissivn nicht
bestätigt und es verlaute mit großer Bestimmtheit, daß
er ungesäumt einen ansehnlichen Truppenteil abschicken
werde, um die in Oldenburg und an der Unterweser
ausgebrochene Insurrektion zu dämpfen."
„Es verlautet!" rief der Doktor, „man sagt!
man erzählt sich! Lieber Freund, soviel wissen wir
doch nachgerade, daß die Gerüchte in der Luft herum-
schwirren wie die Mücken im Sommer. Warten wir
doch erst die Bestätigung ab!"
„Wohl wahr," sagte der Geistliche trübe, „daß man
sich während dieser letzten Wochen und Monate manch-
mal unnötigerweise in Angst und Sorge hat versetzen
lassen. Aber diese Nachricht kann sehr wohl ihrem
ganzen Umfange nach wahr sein, das verbürgt mir
allein schon die Person meines Korrespondenten. Er
würde sie mir nicht mitgeteilt haben, wäre er seiner
Sache nicht durchaus gewiß. — Daß ich es Ihnen nur ,
gestehe: als ich vorhin auf der Kanzel das Evangelium
verlas von dem unsauberen Geiste, der ausgetriebcn
wird und danach zurückkehrt mit sieben andern, die
ärger sind, denn er selbst — da stiegen Bilder der
schrecklichsten Art vor meinem Geiste auf und ich hatte
die äußerste Mühe, meine Fassung zu bewahren."
„Hören Sie, Pastor, Sie sind überreizt," sagte der
Doktor gutmütig; „trinken Sie heute mittag ein
ordentlich Glas Wein und legen Sie sich danach ein
paar Stunden aufs Ohr. Sie haben wohl schlecht
geschlafen in letzter Zeit, nicht?"
Der Pastor gab zu, daß er allerdings wenig Ruhe
habe finden können. „Sehen Sie wohl? Das merke
ich Ihnen an und darum sage ich: der Schlaf muß
nnchgeholt werden! — Jetzt aber lassen Sie uns noch
Eugen Rufst;,
der schweizerische Bundespräsident sür 1898.
einen Augenblick durch Ihren schönen Garten prome-
nieren. Ich habe so lange keinen Trunk aus dem
Willehadusbrunnen*) gethan und sehne mich ordentlich
danach, einmal wieder einen Tropfen reinen Wassers
') Tcr Vierer Pfarrgarten war und ist noch heute im Besitz eines
Brunnens, dessen Wasser sich durch ungewöhnliche Reinheit auszeichnet
und weit und breit geschätzt wirb. Die Geschichte (oder Sage?) jührt
die Anlage dieses Brimnens auf den heiligen Willehadns zurück, der
zur Zeit Karls des Großeisi hier den heidnischen Friesen das Christen-
tmn predigte.
an die Lippen zu bringen. Tie Marschen in allen
Ehren - sie sind ein gottgesegnetes Land, aber ihr
Wasser ist gräßlich!" Das Manöver war gut be-
rechnet. Der seelenkundige Arzt wußte, daß bei dem
Freunde, wenn er ihn erst im Garten zwischen seinen
Blumenrabatten und Obstbänmen hatte die sorgen-
vollen Gedanken am ehesten schwinden würden. Beide
standen jetzt auf dem kleinen Hügel am Ende des
Gartens und blickten nach Osten hinüber, wo hinter
dem Streifen grünen Grodenlandes die breite Wasser-
fläche der Weser im Sonnenscheine glitzerte und wogte.
„Daß England sich die Gelegenheit entgehen läßt,
sich mit einem einzigen Handstreich in den Besitz der
Wesermündung zu setzen — ich fasse es nicht!" rief
nach einem Augenblicke des Stillschweigens der Pastor
aus. „Hier auf der Batterie die schwache, noch dazu
aus Landeskindern bestehende Besatzung, da drüben
auf der Karlsburg ebenso — ein einziges englisches
Kriegsschiff könnte sich ja binnen wenigen Stunden
zum Herrn der Gesamtlage machen!"
„Wer weiß, was geschieht!^ meinte der Doktor,
„wer weiß, ob nicht schon binnen heute und wenigen
Tagen die Flagge mit dem Andreaskreuz von den
Schanzen beider Ufer weht?"
„Doktor, mir ist, als hätten wir seit unsrer letzten
Unterredung — erinnern Sie sich noch? es war im
Februar, an dem Tage, da ich den Betzienschen Brief
erhielt — unsre Naturen ausgetaufcht. Damals waren
Sie der Zögernde, zur Vorsicht Mahnende, ich der
Hoffnungssreudige, Zuversichtliche. Und jetzt ist mir
die Seele bedrückt, das Herz schwer wie noch nie.
Glaubte ich an Ahnungen, so würde ich sagen, es laste
das Vorgefühl eines ungeheuren Unglücks ans mir.
Ich weiß und beherzige aber, daß man sich solchen
Stimmungen nicht hingeben darf und verspreche Ihnen:
kein Mensch wird je wieder eine solche Aeußerung aus
meinem Munde hören — auch Sie nicht!"
„Brav!" sagte der Arzt. „Nehmen Sie dagegen
von mir die Versicherung, daß Sie in jeder Lage, wo
Freundesrat und Freundeshilfe Ihnen not thut, ans
mich zählen können."
Nicht vierundzwanzig Stunden waren seit diesem
Gespräch vergangen, als der Pastor, diesmal umgeben
von einer ganzen Anzahl seiner Gemeindegenvssen,
wieder auf dem kleinen Hügel in seinem Garten stand
und verklärten Blickes nach dem jenseitigen User hin-
übersah, während das Fernglas, dessen er sich zuerst be-
dient hatte, von Hand zu Hand wanderte. Von drüben
donnerten in regelmäßigen Pausen Kanonenschüsse und
jeder von ihnen wurde von den Dorfbewohnern,
Am Brunnen. Nach dem Gemälde von Ludwig Pasjini.
IllnKrirte Welt.
Pastorei anhalten lassen, um mit dem Freunde, den
er seit einigen Wochen nicht gesehen, seine Ansichten
über die jüngsten Ereignisse anszutauschen."
„Nun, was ist denn? Sie sehen ja schlecht aus!"
waren übrigens die ersten Worte, mit denen auch er
den aus der Kirche Hcimkehrenden begrüßte.
„Doktor, ich fühle mich auch schlecht ! Die Ereig-
nisse der Zeit lasten zu schwer ans mir."
„Wie denn?" meinte der Doktor mit einem schwa-
chen Versuche zu scherzen, „gerade ihr hier in Blexen
habt ja schon einen recht anerkennenswerten Anlauf
genommen, den Ereignissen der Zeit eine Wendung
zum Besseren zu geben."
Der Prediger machte eine abwehrende Handbe-
wegung. „Das ist über uns gekommen — man kann
sagen, ohne unser Zuthun! Für uns hängt jetzt alles
davon ab, welche Haltung die Franzosen einnehmen.
In Oldenburg hat man geglaubt, schon völlig mit der
Fremdherrschaft fertig zu sein, man hat jubiliert und
illuminiert und das Bild des Herzogs in den Fenstern
aufgestellt. Heute morgen aber erhalte ich einen Brief
aus Bremen mit der niederschmetternden Nachricht! der
Präfekt, Graf Arberg, habe die von seinem Unter-
präfekten eingesetzte Administrativ-Kommissivn nicht
bestätigt und es verlaute mit großer Bestimmtheit, daß
er ungesäumt einen ansehnlichen Truppenteil abschicken
werde, um die in Oldenburg und an der Unterweser
ausgebrochene Insurrektion zu dämpfen."
„Es verlautet!" rief der Doktor, „man sagt!
man erzählt sich! Lieber Freund, soviel wissen wir
doch nachgerade, daß die Gerüchte in der Luft herum-
schwirren wie die Mücken im Sommer. Warten wir
doch erst die Bestätigung ab!"
„Wohl wahr," sagte der Geistliche trübe, „daß man
sich während dieser letzten Wochen und Monate manch-
mal unnötigerweise in Angst und Sorge hat versetzen
lassen. Aber diese Nachricht kann sehr wohl ihrem
ganzen Umfange nach wahr sein, das verbürgt mir
allein schon die Person meines Korrespondenten. Er
würde sie mir nicht mitgeteilt haben, wäre er seiner
Sache nicht durchaus gewiß. — Daß ich es Ihnen nur ,
gestehe: als ich vorhin auf der Kanzel das Evangelium
verlas von dem unsauberen Geiste, der ausgetriebcn
wird und danach zurückkehrt mit sieben andern, die
ärger sind, denn er selbst — da stiegen Bilder der
schrecklichsten Art vor meinem Geiste auf und ich hatte
die äußerste Mühe, meine Fassung zu bewahren."
„Hören Sie, Pastor, Sie sind überreizt," sagte der
Doktor gutmütig; „trinken Sie heute mittag ein
ordentlich Glas Wein und legen Sie sich danach ein
paar Stunden aufs Ohr. Sie haben wohl schlecht
geschlafen in letzter Zeit, nicht?"
Der Pastor gab zu, daß er allerdings wenig Ruhe
habe finden können. „Sehen Sie wohl? Das merke
ich Ihnen an und darum sage ich: der Schlaf muß
nnchgeholt werden! — Jetzt aber lassen Sie uns noch
Eugen Rufst;,
der schweizerische Bundespräsident sür 1898.
einen Augenblick durch Ihren schönen Garten prome-
nieren. Ich habe so lange keinen Trunk aus dem
Willehadusbrunnen*) gethan und sehne mich ordentlich
danach, einmal wieder einen Tropfen reinen Wassers
') Tcr Vierer Pfarrgarten war und ist noch heute im Besitz eines
Brunnens, dessen Wasser sich durch ungewöhnliche Reinheit auszeichnet
und weit und breit geschätzt wirb. Die Geschichte (oder Sage?) jührt
die Anlage dieses Brimnens auf den heiligen Willehadns zurück, der
zur Zeit Karls des Großeisi hier den heidnischen Friesen das Christen-
tmn predigte.
an die Lippen zu bringen. Tie Marschen in allen
Ehren - sie sind ein gottgesegnetes Land, aber ihr
Wasser ist gräßlich!" Das Manöver war gut be-
rechnet. Der seelenkundige Arzt wußte, daß bei dem
Freunde, wenn er ihn erst im Garten zwischen seinen
Blumenrabatten und Obstbänmen hatte die sorgen-
vollen Gedanken am ehesten schwinden würden. Beide
standen jetzt auf dem kleinen Hügel am Ende des
Gartens und blickten nach Osten hinüber, wo hinter
dem Streifen grünen Grodenlandes die breite Wasser-
fläche der Weser im Sonnenscheine glitzerte und wogte.
„Daß England sich die Gelegenheit entgehen läßt,
sich mit einem einzigen Handstreich in den Besitz der
Wesermündung zu setzen — ich fasse es nicht!" rief
nach einem Augenblicke des Stillschweigens der Pastor
aus. „Hier auf der Batterie die schwache, noch dazu
aus Landeskindern bestehende Besatzung, da drüben
auf der Karlsburg ebenso — ein einziges englisches
Kriegsschiff könnte sich ja binnen wenigen Stunden
zum Herrn der Gesamtlage machen!"
„Wer weiß, was geschieht!^ meinte der Doktor,
„wer weiß, ob nicht schon binnen heute und wenigen
Tagen die Flagge mit dem Andreaskreuz von den
Schanzen beider Ufer weht?"
„Doktor, mir ist, als hätten wir seit unsrer letzten
Unterredung — erinnern Sie sich noch? es war im
Februar, an dem Tage, da ich den Betzienschen Brief
erhielt — unsre Naturen ausgetaufcht. Damals waren
Sie der Zögernde, zur Vorsicht Mahnende, ich der
Hoffnungssreudige, Zuversichtliche. Und jetzt ist mir
die Seele bedrückt, das Herz schwer wie noch nie.
Glaubte ich an Ahnungen, so würde ich sagen, es laste
das Vorgefühl eines ungeheuren Unglücks ans mir.
Ich weiß und beherzige aber, daß man sich solchen
Stimmungen nicht hingeben darf und verspreche Ihnen:
kein Mensch wird je wieder eine solche Aeußerung aus
meinem Munde hören — auch Sie nicht!"
„Brav!" sagte der Arzt. „Nehmen Sie dagegen
von mir die Versicherung, daß Sie in jeder Lage, wo
Freundesrat und Freundeshilfe Ihnen not thut, ans
mich zählen können."
Nicht vierundzwanzig Stunden waren seit diesem
Gespräch vergangen, als der Pastor, diesmal umgeben
von einer ganzen Anzahl seiner Gemeindegenvssen,
wieder auf dem kleinen Hügel in seinem Garten stand
und verklärten Blickes nach dem jenseitigen User hin-
übersah, während das Fernglas, dessen er sich zuerst be-
dient hatte, von Hand zu Hand wanderte. Von drüben
donnerten in regelmäßigen Pausen Kanonenschüsse und
jeder von ihnen wurde von den Dorfbewohnern,
Am Brunnen. Nach dem Gemälde von Ludwig Pasjini.