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die in Scharen über das Grodenland hin und dem
Ufer zueilten, mit Jubelrufen beantwortet. Denn die
Kugeln der gelösten Geschütze nahmen, wie die auf-
spritzenden Wassersäulen verrieten, ihren Weg nord-
wärts, also der offenen See zu — zum unverkenn-
baren Zeichen, daß die jenseitige Batterie nicht etwa
von Feinden genommen, sondern daß das Abfeuern
der Kanonen lediglich eine Freudenbezeigung sei.
Nicht lange dauerte es, so stieg die englische Flagge
auf der Karlsburg in die Höhe; zum Ueberfluß brachte
ein von Bremerlehe herüberkommendes Boot die Nach-
richt, daß dort von Kuxhaven her eine Abteilung
Engländer eingerückt sei und daß binnen wenigen
Tagen auch russische Truppen von Hamburg eintreffen
und die Wesermündnng in Besitz nehmen würden.
Bon der Blexer Batterie erdröhnte der Kanonensalut
für die britische Flagge und bei jedem neuen Schüsse
war es den Dorfbewohnern, als falle ihnen eine Last
vom Herzen, die sie vergebens versucht hatten, sich ab-
zuleugnen. Jetzt, jetzt erst durften sie sich vor der Rache
der Franzosen gesichert halten!
Wie oft richteten sich in den nächsten beiden Tagen
ihre Blicke sehnsüchtig hinüber nach dem andern User,
wie oft auch schweiften sie nach Norden über den
Spiegel der See. Irgend etwas mußte sich ja doch
ereignen, um dem jetzigen ungewissen Zustand ein
Ende zu machen — entweder würden Segel am Hori-
zonte austauchen, die Annäherung einer englischen
Flotte verkündigend, oder Boote mit Bewaffneten —
Engländern, Russen, Dänen, einerlei, wenn es nur be-
freundete Truppen waren — würden vom rechten
Weserufer abstoßen, uni Dorf und Batterie zu besetzen.
Aber nichts, nichts von allem geschah, und die Span-
nung, die sich kaum erst gelöst hatte, war von neuem
da, aufreibender, herzbeklemmender als zuvor. Bon
neuem tauchten Gerüchte aus, kreuzten sich Nachrichten
der entgegengesetztesten Art, so daß zuletzt geradezu
keine einzige mehr gläubige Aufnahme sand.
Eine aber langte plötzlich an, die sofort ihrem
ganzen Umfange nach geglaubt ward, weil sie den
Stempel der Wahrheit, furchtbarer, erbarmungsloser
Wahrheit an der Stirn trug. Bon Elsfleth war
einer der in Blexerdeich wohnenden Schiffer mit seinem
Segelboote in rascher Fahrt die Weser herunterge-
kommen und hatte sich unmittelbar nach seiner Landung
ins Dorf begeben. Dem Maire stattete er zuerst die
Meldung ab: „De Franzosen sünd in 'n Antog!"
Dann wiederholte er sie einem jeden, der ihm aus der
Straße begegnete, und jedesmal mit dem Zusatz:
„Wahrt jo! ditmal ward et Eernst!" Auf hastiges
Befragen berichtete er, es sei von Bremen aus eine
bedeutende Abteilung regulärer Truppen, man schätze
sie etwa tausend Mann stark, abgesandt worden, um
die Insurgenten in Butjadingen zu züchtigen. „Oo-
iouno mobile heet de Bande," schloß er seine Mit-
teilung, „un General Verdammt*) hett se utschickt.
Bau Bremen sünd se äwer Delmenhorst un Hunte-
brügg na Elsfleth marscheert, un morgen hefft ji se
hier."
Lähmendes Entsetzen bemächtigte sich aller beim
Anhören dieser Worte. In kaum zehn Minuten war
die Kunde durch das ganze Dorf getragen, allüberall
starrten schreckensbleiche Gesichter einander an. Die
Frauen brachen in Jammern und Klagen aus, viele
begannen ihre wertvollste Habe in Kisten und Kästen zu
packen. Die meisten drangen daraus, man müsse flüchten.
Ja, flüchten — aber wohin? und auf welche Weise?
Fuhrwerke gab es nur in sehr beschränkter Anzahl
im Dorfe; die meisten Gespanne hatten ja die Fran-
zosen requiriert. Und zu Fuß — wie weit würde man
kommen, zumal wenn man sich mit seinen Habselig-
keiten belud? Es ließ sich ja mit Sicherheit anneh-
men, daß die Franzosen, nachdem sie sich über das
Tors hergemacht, nach allen Seiten ausschwärmen
würden, und dann setzte man sich der Gefahr aus,
auf freiem Felde überholt, ausgeplttudert und viel-
leicht mißhandelt zu werden. So zog man es größten-
teils doch vor, Geld und Geldeswert an möglichst un-
zugänglichen Orten zu verstecken und dann abzuwarten,
was das Geschick verhängen werde.
Von der Batterie traf Botschaft über Botschaft
ein. es möchten doch von den Blerern möglichst viele
herauskommen, um im Verein mit den Kanonieren
die Schanze zu verteidigen. Sehr begreiflicherweise
fand aber diese Aufforderung taube Ohren. Wozu
man die Batterie halten solle, ward gesragt, wenn
das Dorf in den Händen der Franzosen sei ? Ob man
vielleicht von dort aus Freunde und Feinde zusammen-
zuschießen beabsichtige? — Mit diesem Bescheide war
der letzte der ausgesandten Boten, Hinrich Beckhusen,
vor etwa einer halben Stunde entlassen worden. Die
Gruppen auf den Straßen, die bis jetzt erregt ge-
sprochen und ihre Meinung nachträglich noch verfochten
hatten, begannen sich aufzulösen — da plötzlich dröhn-
ten die ehernen Schläge der großen Kirchenglocke über
das geängstete Dorf hin, langsam zuerst, daun schneller

So hieß im Volksmunde General Vandamme.

Illustrirte Welt.

und schneller — es ward Sturm geläutet. Wiederum,
wie schon so oft im Lause dieses Tages, öffneten sich
alle Thüren, die Männer stürzten auf die Straße
hinaus, hinter ihnen her ertönte das Jammern der
Fracken und Kinder. „Wat is 't? wat is 't?" fragte
alles atemlos durcheinander, „sünd'r de Franzosen?
sünd se dar?" Jeder glaubte die Stunde der Ent-
scheidung gekommen; wie ein letztes Aufatmen war es,
als man erfuhr, Lübbe Ehlers, der gegenwärtige
Kommandant der Batterie, habe befohlen, die Glocke
zu läuten, um auf solche Weise die Dorfbewohner zum
Widerstande zu entflammen und so vielleicht Freiwillige
für die Verteidigung der Weserschanze zu gewinnen.
„Is jo 'n verrückten Jnfall van den Keerl!" rief
Meister Beckhusen, der gleichfalls auf die Straße ge-
eilt war, aus, „de Batterie ward noch heel un deel
(ganz und gar) use Verdarben!" Da sah er den Be-
sprochenen selbst des Weges dahereilen mit kirschbraunem
Gesicht und heftig mit den Armen gestikulierend. Ihm
folgten vier oder fünf von seinen Kanonieren.
„Ehlers," rief ihm der Meister zu, „wäsen (sein)
Se doch vernünftig! Se weerd 't jo dat Unglück noch
grötter maken, as 't so all is. Versöken Se doch nich
de Batterie to holen (halten) gegen de Aewermacht!"
„Wat?" schrie Lübbe Eylers mit heiserer Stimme,
„up de Karlsborg willt se sick holen bet up den leßden
Mann un wi schulten (sollten) us hier verkrupen (ver-
kriechen) as de Bangebüren? Nä, de Batterie ward
holen, aberst allem kähnt wi 't nich, de Blexer möt
't helpen! — Jungens!" kommandierte er plötzlich,
„packt an un hohlt wiß!" Zwei junge Leute, die
aus einer Schenke traten, wurden von den Kanonieren
mit eisernem Griffe gefaßt und gewaltsam mit fort-
geschleppt.
„Lewer Gott!" sagte Frau Beckhusen, die sich aus
dem offenen Fenster gelehnt hatte, um den Vorgang
mit anzusehen, „de een dat weer jo woll Hermann
Arens un de anner - Herr du meines Lebens, nu
seh' ickt cerst — de anner, Krischan, dat is jo Klaus,
dien Swestersähn! Wat ward dor nu ut?"
„Ja, Gott in 'n hogen Himmel mag 't wüten,
Mutter!" sagte gramvoll der Meister, „ick weet et nich!"
„Un dar hefft se den drüdden ook bi 'n Kanthaken
(beim Arme) saat 't," berichtete die Frau weiter.
„Dat is Schipper Harms ut Tettens, de hett hier in
't Dorp Umfrag holen, wer Updräge na Bremen hett,
he will morgen mit sienen Kahn henupsahren."
„Mak dat Finster man wedder io!" gebot der
Mann, „ick mag van all den Unverstand nicks mehr
hören un sehen!"
Das Läuten der Glocke war verstummt. Auf ein-
mal rief eine Frauenstimme in schrillem Ton: „De
Franzosen kamt! Se kamt dar in 'n Süden den Dick
(Deich) entlang!"
Und so war's.
Achtes Kapitel.
In die Predigerwohnung stürzten der Maire —
Adjoint Mengers und der Notar Schwarz mit der
Botschaft, der Gemeinderat habe sie beauftragt, den
anrückenden Franzosen entgegenzugehen und ihnen im
Namen der Dorfbewohnerschaft die Versicherung zu
geben, daß niemand an Feindseligkeiten und an Wider-
stand gegen die französischen Behörden denke. Man
wünsche aber von allen Seiten dringend, daß auch der
Pastor sich ihnen anschließe.
Ohne einen Augenblick zu zögern, griff dieser nach
seinem Amtsbarett, dann öffnete er einen Fingerbreit
die Thür des Nebenzimmers. „Liebe Frau, mich ruft
ein eiliges Geschäft, ich denke aber bald zurückzu-
kommen."
„Wohin gehst du?" kam es angstvoll zurück. Doch
schon hatte er die Thür ins Schloß gedrückt und sich
seinen Begleitern angeschlossen die eiligst den grünen
Brink vor dem Hause überschritten und nun in die
Dorfstraße einbogen „Meine Hoffnung ist," hob der
Maire-Adjoint an. „daß bei der Truppe sich der Kapi-
tän Carlier befindet. Kommandant Tetrita ist, wie
ich gehört habe, von Varel aus sofort nach Wesel ge-
gangen; dem würde ich auch nichts Gutes zugetraut
haben. Aber Carlier weiß ganz genau, daß die Blexer
hinsichtlich der Batterie in einer Zwangslage waren;
er wird es uns auch nicht anrechnen, daß einige
fremde Strolche sich an seinem Eigentum vergriffen,
und so hoffe ich, daß er eher ein Wort zu unfern
Gunsten einlegt, als den Aufhetzer macht."
Ter Prediger wollte eben antworten, als sich durch
die Dorfbewohner, die angstvoll und ratlos in Gruppen
bei einauderstanden, keuchend und barhäuptig ein Mann
drängte: „Herr Pastor! Herr Pastor, Se möt 't foort,
so as Se gaht un staht!"
„Riesebieter! Mein Gott, wo sütt (sieht) de ut!
Wo kümmt de her?" riesen verschiedene Stimmen
durcheinander.
„Ick bidd' Se," drängte der Mann, „verleeren Se
de Tied nich, bringen Se sich in Säkerheit, so gau
(schnell) als Se kähnt. In Brake hefft se mi 't mit
de gröttste Bestimmtheit versäkert, de Franzosen föhrden

'n ganze Moordliste mit sick un Aehr Name stunn
(stände) baben an. Se sünd betekent as Anführer des
Aufstandes/ Ich weet sülfst nich, wo ick den Weg
von Brake bet hier so flink kamen bin. aberst nu redden
Se sick, eh' dat to laat is!"
„Mein Gott, Herr Pastor," schrie Schwarz auf,
„da vorn im Dorf werden schon französische Reiter
sichtbar! Denken Sie an Frau und Kinder, fliehen Sie!"
„Kamen Se mit mi, Herr Pastor!" flüsterte Fuhr-
mann Stege, der eben aus seiner offenen Stallthür
trat. „Mien Päär staht in 't Geschirr; wo schall 'k
Se henbringen?"
„Na Waddens, na 'n Doktor Weber!" keuchte der
Prediger, „de Helpt mi wider (weiter)!"
In der nächsten Minute jagte ein Leiterwagen,
aus den man in der Eile so viele Strohbündel gehäuft
hatte, daß' sich ein Mensch zur Not zwischen ihnen
bergen konnte, nordwärts zum Dorfe hinaus, so rasch
es der unebene, holprige Weg erlaubte. Vom ent-
gegengesetzten Ende her ritten etwa ein Dutzend finster-
blickende französische Chasseurs, die den Vortrab der
Kolonne bildeten, ein.
„Und was thun wir?" fragte Notar Schwarz,
seinen Begleiter anblickend.
„Unsre Pflicht!" entgegnete dieser fest. „Kommen
Sie, Schwarz, wir gehen der Truppe bis vors Dorf
entgegen und suchen bei dem Kommandanten unsre
Sache zu führen."
Die Straße lag jetzt wie ausgestorben; alles hatte
sich in Erwartung der kommenden Dinge in die Häuser
geflüchtet. Wo die letzten zum Dorfe gehörenden
Gemüse-Aecker an das freie Feld grenzten, machten die
beiden Abgesandten Halt und erwarteten die Annähe-
rung der furchtbaren Kolonne, die, von der „Trift" des
Deiches sich herabziehend, den gerade auf das Dorf zu-
führenden Landweg einschlug. Es meinte jeder das
Herz des andern klopfen zu hören — oder war es
das eigne Herz, das so hämmerte? Auf ihren Stirnen
perlte der Schweiß — und doch blies der Ostwind so
scharf von der Wasserkante herüber. Von ihm hin
und her bewegt, ächzte die alte Weide, an deren Stamm
sie Posto gefaßt hatten, so schrill und unheimlich, daß
es klang wie schneidender Wehlaut.
Bis auf wenige hundert Schritte war die Spitze
des Zuges herangekommen, als Schwarz Plötzlich seinen
Arm gefaßt fühlte. „Da! Carlier! der Kapitän
— er ist es wirklich!" rief Mengers halblaut. „Gott
sei Dank, das ist doch ein Hoffnungsstrahl!"
Ach, nur einige kurze Augenblicke noch — und
auch dieser letzte arme Hoffnungsstrahl erlosch!
,,8alte-Iä!-' ertönte die Stimme des französischen
Offiziers, sobald er die Harrenden erblickt und aus
dem Schwenken ihrer Hüte erkannt hatte, daß man
den Wunsch hege, ihn anzureden.
„Herr Kapitän," sagte Mengers, einen Schritt vor-
tretend, „es ist uns eine besondere Freude, daß gerade
Sie an der Spitze dieser Truppe stehen. Sie werden
uns bezeugen, daß wir niemals Feindseligkeiten gegen
Sie verübt, vielmehr alles aufgeboten haben —"
„Was?" schrie Carlier, dessen Augen vor Haß
förmlich zu sprühen schienen. „Sie wagen, mir das zu
sagen? Ihr habt mich getäuscht, habt mich betrogen;
ihr war't es, die den Kanonieren den Gedanken
Weiter kam er nicht. Ein seltsames Pfeifen ließ
sich in der Luft hören und von dem seitwärts belegenen
Acker stäubte plötzlich ein dichter Erdregen nach allen
Seiten hin. Die Kanoniere von der Batterie schickten
den Anrückenden ihren Willkommensgruß zu; die
Kugel aber war in den Boden gefahren.
'„Lu avant!'- kommandierte der Kapitän und sich
noch einmal zu den wie erstarrt dastehenden beiden
Gemeindevertretern umwendend, rief er ihnen zu:
„Sprechen Sie mit dem Kommandanten! Ich selbst
kann und will nichts zu Ihren Gunsten thun."
„Mit dem Kommandanten sprechen?" wiederholte
Schwarz, „wo finden wir den?"
Aus den Reihen trat ein Douanenoffizier, der Jahr
und Tag in Blexen stationiert gewesen war und die
beiden kannte. „Hier können Sie nicht stehen bleiben,
meine Herren. Wollen Sie das Ziel für die Kugeln
Ihrer eignen Landsleute bilden?"
„Herr Lejeune," fragte Mengers, der den Franzosen
nun auch erkannte, „wer kommandiert die Kolonne?"
„Der Oberst Alouis von Varel," entgegnete jener,
höflich mit dem Degen salutierend, „^ülou messiours!'-
„Kommen Sie, Schwarz!" sagte Mengers mit
heiserer Stimme, „wir wissen genug! Wenn man uns
Henkersknechte schicken wollte, dann konnte man ihnen
allerdings keinen besseren Anführer als Alouis geben!
Jedes Wort, das wir zu dem sprechen wollten, wäre
in den Wind geredet!"
Einer Süpdflut gleich ergoß sich nach weniger
als einer Viertelstunde die eine Hälfte der Kolonne
über das unglückliche Dorf, während die andre nach
rechts abschwenkte und auf die Batterie zu marschierte,
deren Schüsse anfänglich noch herüberdonnerten, nach
nicht langer Zeit aber verstummten. Ueberall aus den
Häusern ertönte Wehklagen und Jammergeschrei. Wo
 
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