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466

Illustrirte Welt.

Und nun saß sie schon seit acht Tagen am Pensions-
mittagstisch neben ihrem Vater, gerade ihm, dem
Hauptmann z. D., gegenüber, und jeden Tag schob er
die abscheuliche, vor ihm stehende Vase mit der künst-
lichen Hortensie zur Seite, um jenes rosige, frische
Gesicht sehen zu können.
Mit dem alten jovialen Doktor Rennberg, Biblio-
thekar nnd Direktor der Museen einer kleinen thüringi-
schen Residenzstadt, war er bald bekannt geworden
und Pflegte mit ihm und der Tochter Fanny in der
luftigen Holzveranda der Pension G. . . den Nach-
mittagskaffee zu nehmen, während er mit dem Vater
eine Partie Schach spielte.
Seit vier Wochen wohnte Firnhofs in dieser großen
Fremdenpension Berchtesgadens, ohne einem der Mit-
bewohner nähergetreten zu sein.
Er war nie vorher gereist in seinem Leben, und
ihm fehlte vollständig die weltgewandte Behendigkeit,
sich mit wildfremden Menschen in ein Gespräch und
nähere Bekanntschaft hineinzufinden.
Es war eigentlich sehr trivial, aber Fanny Renn-
berg war ihm dadurch ausgefallen, daß sie mit sehr gutem
Appetit aß, ohne hierdurch anscheinend ihrer schlanken,
mädchenhaften Magerkeit zu schaden, daß sie ganz gern
zwei bis drei Gläser Wein trank, ohne schwindelig zu
werden, und daß sie das blonde Haar, unbekümmert
um die herrschende Mode, nicht in absolut zwecklos
krausgebrannten und gewickelten Wirrnissen von der
Stirn über die Ohren und Schläfen wegfrisierte, son-
dern dasselbe einfach zurückgestrichen in einem alt-
modischen, englischen Knoten am Hinterkopf geordnet
trug, so daß die hohe Stirn mit dem zarten Geäder
der Schläfen und der feine, fest geformte Nacken frei
blieben, und Firnhoff sich darüber freuen konnte.
Als ihr Vater nach dem ersten Mittagessen ganz
einfach mit lauter Stimme fragte: „Spielt einer der
Herren vielleicht Schach?" gab sich der Hauptmann
einen Ruck und stellte sich ihm und der Tochter vor.
„Gut, gut, also legen wir los," meinte der Doktor,
mit einem musternden Blick den Schachgegner auf seine
geistigen Fähigkeiten prüfend, und als sie hinaus-
gingen aus die Veranda, flüsterte ihm Fanny zu:
„Wenn Sie gut Schach spielen, legt Sie der Vater
jeden Nachmittag vor Anker; Sie haben also heute
Ihr Schicksal in der Hand."
Und als Firnhoff nach hartem Kampfe die erste
Partie gewann, und ihr Vater zum zweiten Turnier
die Figuren aufstellte, meinte sie lachend: „Ihr Schick-
sal ist entschieden!" welche Bemerkung er mit sehr ver-
gnügtem Gesicht und einer Verbeugung quittierte.
Eines Tages war der Doktor wegen einer leichten
Unpäßlichkeit nicht zum Diner erschienen, und Eduard
Firnhoff dachte mit Unbehagen an das Dessert, nach
welchem Fanny wahrscheinlich verschwinden würde, und
er seinen Mokka allein trinken müßte, ohne die in den
letzten Tagen öfters vorgekommenen Zerstreutheiten im
Spiel begehen zu können, welche er alle aus Rechnung
Fannys sich zu schulden kommen ließ.
„Sie müssen heute mit mir allein vorlieb nehmen,
Herr Hauptmann," sagte sie jedoch zu seiner freudigen
Ueberraschung, als er ihr nach dem Essen gesegnete
Mahlzeit wünschte, „der Vater leidet wieder an einem
Rheumatismusanfall und hat mir aufgetragen, mich
um Ihren Dinerkaffee zu kümmern!"
„Sehr liebenswürdig," antwortete er beinahe ver-
legen und schlug nach alter Offiziersgewohnheit die
Hacken zusammen.
Nun saßen sie einander gegenüber in der herr-
lichen, sonnenwarmen Lust, die aus dem Ramsauthal
hereinwehte. Sie hatte die Hände rückwärts unter
dem Haarknoten gegen die hohe Rückenlehne des be-
quemen Stuhles gelegt, und er genoß, ebenso bequem
ruhend, das feine Aroma seiner guten, importierten
Zigarre und ließ die Augen im ruhigen Anschauen
über die eleganten Konturen der Watzmannspitzen und
die mächtige Prosillinie des Hochkalters gleiten.
Das war doch etwas andres, als sich in dem Nest
an der polnischen Grenze nachmittags zu überlegen, ob
er es riskieren könnte, zwanzig neue Drillichröcke von
der Compagniekammer herzugeben, oder ob er in der
nächsten Woche zwei- oder dreimal zum Felddienst
ausrücken sollte. Ohne sich dessen bewußt zu werden,
glitt sein Blick von den fernen Bergen in nähere Re-
gionen und schweifte mit behaglicher Freude über die
Mädchengestalt ihm gegenüber hinweg, freute sich über
die Sonnenreflexe, die in ihrem blonden Haare spielten,
über die elegante Linie von den erhobenen Armen her-
unter bis zum hellledernen Taillengürtel, über die
regelmäßigen kleinen blauen Punkte im schneeigen Weiß
ihrer Sommerbluse, und dann erst fiel es ihm aus,
daß auch ihre Augen auf ihm ruhten.
Er lächelte etwas gezwungen und verlegen, während
ihr Lachen hell und unbekümmert zu einem lustigen
Triller hinaufwirbelte; sie nahm die Hände vom Hinter-
kopf und schaute, sich vorbeugend, in die vor ihm stehende
geleerte Tasse hinein.
„Noch eine, Herr Hauptmann?"
„Ich bitte — sehr freundlich von Ihnen."

„An was dachten Sie soeben?" fragte sie dann,
beide Ellbogen auf den Tisch stützend und ihn lachend
anblickend.
„Wenn ich offen sein soll — an nichts! Ich dachte
Wohlbehagen! Kennen Sie den Zustand?"
„Ja und nein, aber der Ausdruck ist gut und be-
zeichnend für diese satte, mit sich und aller Welt zu-
friedenen Stimmung. Ich will Ihnen auch sagen,
woran ich dachte, obgleich es eigentlich abscheulich ist.
Ich habe Ihr Lebensalter taxiert."
Er blickte sie unsicher an und hatte fast Mühe,
einen unbehaglichen Eindruck abzuschütteln.
„Warum abscheulich! Ich bin weder ein alterndes
Mädchen noch eine Mutter, die sich zu jung fühlt, ihre
älteste Tochter aus den ersten Ball zu führen. Auf
welches Alter sind Sie abgekommen?"
„Fünfunddreißig bis vierzig."
„Ah, bravo! Nach meinem Stammrollenauszug
bin ich dreiundvierzig. Aber nun muß ich fragen,
weshalb Sie mich dieser Schätzung unterzogen?"
Sie errötete ein wenig.
„Ich zerbrach mir den Kopf, weshalb Sie in dem
besten Mannesalter Ihren Beruf aufgegeben haben
könnten, und was Sie nun wohl mit dem Leben an-
sangen würden. Sie dürfen sich über diese Frage nicht
wundern, denn mein Vater erzog mich mit Grund-
sätzen, und sein oberster Grundsatz ist, daß der Mensch
keine andern Rechte hätte als diejenigen auf Arbeit
und Pflichterfüllung. Alles andre soll man tragen
oder genießen."
Er überlegte einige Augenblicke. Es war ihm fast
unbehaglich, an sein bisheriges Leben zurückzudenken,
es Paßte nicht zu dieser selbstzufriedenen Mokka- und
Zigarrenstimmung.
„Was ich mit dem Leben anfangen will?" wieder-
holte er langsam ihre Frage. „Gar nichts, Fräulein
Rennberg. Ich habe mich zwanzig Jahre mit dem
Leben herumgeschlagen und möchte mich nun vom
Leben hätscheln lassen."
„Ist das Ihr Ernst?"
„Vollständig!"
„Also passive Ergebenheit mit dem festen Wunsche
gepaart, sich vom Leben nur noch das Dessert vorsetzen
zu lassen."
„Sehr recht, ein gutes Dessert nach einem langen,
aber sehr schlechten, unbekömmlichen Mittagessen!" ant-
wortete er etwas bitter und sah mit gerunzelter Stirn
an ihr vorbei nach der Reichenhaller Straße hinüber,
auf welcher zwei Radfahrer tiefernst, durchdrungen
von ihrem Beruf, mit geschäftiger Emsigkeit der Bein-
muskeln vorüberhaspelten.
„Und dieses Dessert soll nun das ganze schlechte
Mittagessen herausreißen?" fragte sie, die klugen Augen
mit fast traurigem Ausdruck aus ihn richtend.
„Ja, das soll es!" Irgend etwas bäumte sich in
ihm gegen den Einfluß auf, welchen der Ausdruck ihrer
Augen aus ihn ausübte. „Sie sind jung. Sie sind
ein Mädchen, Sie wissen nicht und werden nie er-
fahren, was ich erfahren habe. Vor Ihnen und hinter
Ihnen liegt Sonnenschein, vor mir nur ein vielleicht
erfreulicher Sonnenuntergang."
Sie schüttelte ernst den Kopf.
„Nicht so ganz, Herr Hauptmann. Ja, ich bin
glücklich, glücklich, weil ich, wenn auch mutterlos seit
meinem zweiten Lebensjahre, einen solchen Vater be-
sitzen durfte. Ich bin nicht ausgewachsen wie die
meisten Mädchen, sondern körperlich fast mehr wie ein
Junge, und geistig — nun, ich habe im vorigen Jahre
auf Vaters Wunsch mein Lehrerinnenexamen gemacht.
Der Vater ist alt und möchte, daß ich auf eignen
Füßen stehen könnte, wenn er einmal aus der Welt
ginge, da er außer seinem jetzt zwar guten Gehalt
nichts besitzt, und ich dann auf meine eigne Arbeit
angewiesen sein würde."
„Ah," sagte Firnhoff, „und dem sehen Sie so ruhig
entgegen?"
„Ja, ganz ruhig! Es wäre ja auch möglich, daß
ich vorher heiratete!" antwortete sie gleichmütig.
Er sah sie forschend an. Das war eine Sprache,
so offen, ruhig und selbstbewußt, wie er eine solche
nie aus Frauenmund gehört hatte. Er mußte sich
wirklich erst sammeln und legte die erloschene Zigarre
langsam in den Aschenbehälter.
„Vielleicht würden Sie sich nicht so wundern über
meine Anschauungen, gnädiges Fräulein, wenn ich
Ihnen mein vergangenes Leben kurz schilderte. Wollen
Sie mir so lange zuhören?"
„Mich würde es interessieren!" sagte sie einfach.
„Gut! Ich war arm! Mein Vater hatte nichts
als seine Pension und Jnvalidenzulage, da ihm im
letzten Kriege das Bein amputiert wurde. Seit meiner
Kindheit habe ich im elterlichen Hause die Sorge
umherwandeln sehen, die graue Sorge um das so-
genannte standesgemäße Auskommen. Traditionell
wanderte ich mit vierzehn Jahren in eine Kadetten-
anstalt, traditionell als Lieutenant mit Königszuschuß
zu einem Regiment an der französischen Grenze. Ich
war passionierter Soldat, trotz des Zwiespalts, einem

Stande anzugehören, mit dessen Ansprüchen sich meine
Kasse und meine Gewissenhaftigkeit in Geldsachen nicht
vertrugen.
„Ich war und blieb ein sogenannter Musterknabe.
Jeder Regimentskommandeur konnte seinen leicht-
sinnigsten Lieutenants sagen: Seht unfern Firnhoff
an, er ist ein Finanzgenie.
„Wenn ich jemals Genialität besaß, so hab' ich
dieselbe sicher ausgehungert und aus mir heraus ent-
behrt.
„Sie stehen diesen Kreisen zu fern, um das recht
begreifen zu können. Glauben Sie mir, das Elend
in Osfizierskreisen ist gewissermaßen oft schlimmer als
dasjenige eines Proletariers, denn es ist das Elend
des bewußten Verzichtleistens, des Entsagens, umgeben
von einem gewissen Luxus, des Dahingebens jedes
Traumes, jeder Hoffnung auf ein wirklich besseres
Los gegenüber der festgefügten eisernen Wirklichkeit.
„Nicht die Arbeit ist es, der Berus an sich, ich habe
ihn immer geliebt — sondern die äußeren Umstände.
„Vor acht Jahren endlich zum Hauptmann avan-
ciert, machte ich den Sprung von der französischen
Grenze in eine Polnische Lehmhüttengarnison. Mit
Feuereifer ging ich in die neue Stellung, und nach
einem Jahr gab ich den Kampf aus, den Kampf des
eignen Selbstgefühls mit den wechselnden Steckenpferden
meiner Vorgesetzten, die jeder Untergebene mitreiten
muß, den Kampf des ausgereiften Mannes mit einer
Stellung, welche an Selbständigkeit derjenigen jedes
Dorfschullehrers nachsteht. In solchen Stimmungen
fiel mir die überraschende Botschaft zu, daß ich durch
den Tod eines unbekannten Verwandten ein kleines
Vermögen als Erbteil erhalten hätte.
„Ich quittierte ohne Besinnen den Dienst. Jetzt
erfuhr ich zum erstenmal im Leben, daß man augen-
scheinlich meiner Berussthätigkeit Anerkennung gezollt
hatte; ein Kommandeur, der mir des öfteren verblümt
versichert hatte, daß ich eigentlich kaum die Berechti-
gung hätte, als denkender Mensch behandelt zu werden,
versicherte mir nun, daß er mich für einen seiner besten
Compagniechefs gehalten hätte.
„Ich habe damals sehr viel gelacht, ingrimmig,
wütend gelacht, aber solches Lachen thut wohl. Und
weil ich nie etwas Schönes von der Welt gesehen, nie
Freiheit genossen hatte, wechselte ich meine Coupons
ein, reiste hierher nach Berchtesgaden und sitze hier
nun — nun, wie Sie mich soeben gesehen haben. Ich
warte auf das Dessert!"
Er holte tief Atem, und Fanny sand, daß er jetzt
älter aussahe als vorhin, fast wie ein Mann zwischen
vierzig und fünfzig Jahren.
Sie schwieg, während er einige Male mit der Hand
über die Stirn strich.
Sie versuchte unter dem Eindruck seiner Worte sich
in seine Gemütsstimmung hineinzufinden und fühlte
doch dabei, daß ihr Alter, ihre Lebenskenntnis nicht
ausreichten, um das wirklich zu bewerkstelligen; aber
Mitleid suhlte sie mit ihm und konnte dafür keine
Worte finden.
„Und jetzt, Fräulein Rennberg, jetzt will ich wieder
jung werden, das werden, was ich nie sein konnte,
was die meisten in meinem Alter hinter sich haben."
Er warf den Kopf auf, und in seinem sehr scharf
geschnittenen männlichen Gesicht erschien ein Zug von
saft fanatischer Willensstärke, und seiner Brust entrang
sich ein tiefer Seufzer.
Sie war langsam aufgestanden. Ihr Denken und
Fühlen stand vor einer Schranke, unbewußt machte
ihr der Zwiespalt zwischen den Wünschen und Jahren
dieses Mannes einen ungesunden Eindruck, und doch
empfand sie Sympathie für ihn, für deren Ausdruck
sie vergeblich nach treffenden Worten suchte.
An einem der Bogenpfeiler lehnend und die Blicke
weit in die herrliche Landschaft senkend, mußte sie beim
Anblick der Bergriesen daran denken, wie alt dieselben
und doch wie ewig jung sie wären in ihrer felsen-
starren, inneren Unwandelbarkeit. Eine unerklärliche
Sehnsucht ergriff ihr junges Herz, der Wunsch, das
Verlangen, dort oben auf einem der himmelragenden
Granitgiganten zu stehen, mit ihrer jungen Kraft
hinauszuklimmen, mit ihrer Jugend, die kein Dessert
war, kein Nachtisch, sondern das erste Gericht, die ge-
sunde, schmackhafte Speise ihrer zwanzig Jahre.
„Sie dürfen mich nicht für oberflächlich halten,"
sagte sie dann und wandte ihm das freundliche Gesicht
zu, „aber so ganz kann ich Ihr Empfinden nicht ver-
stehen. Das Wetter ist so herrlich, die Lust so klar,
ich habe eine Sehnsucht, dort oben hinauszukommen.
Wie ist es, wollen wir morgen eine Bergtour machen?"
Er sah sie erstaunt an und lächelte resigniert.
„Ich bin kein Tiroler und kein Bergfex. Die Berge
dort sehen von hier aus ganz angenehm und lustig
aus. Aber ehe man dort hinaufkommt, hat man die
ganze Begeisterung in Atemlosigkeit und vergossenem
Schweiß erschöpft!"
Sie fröstelte zusammen, trotz der herrschenden
Wärme. Und dieser Mensch sprach von Jungwerden?
Vielleicht bemerkte er die Enttäuschung in ihrem
 
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