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allein er mußte laut auflachen, als der noch immer
wie schlaftrunkene und seiner Sinne nur halb mäch-
tige Schaffner des Generals Anzahl natürlich bestätigte.
„Auf wessen Veranlassung ist' der Zug angehalten
worden?" fragte der Ches, und der Untersuchungs-
richter nickte zustimmend.
Irgend jemand hatte die Notleine gezogen — so
erklärte wenigstens der Schaffner, denn sonst Hütte der
Zug nicht angehalten. Und doch hatte er, der Schaffner,
das nicht gethan, und auch keiner der Reisenden hatte
eingeräumt, das Zeichen gegeben zu haben. Ungehalten
hatte aber der Zug, das war ganz zweifellos.
„Das wirft ein ganz neues Licht auf die Sache,"
gestand der Richter. „Ziehen Sie einen bestimmten
Schluß daraus?" wandte er sich wieder an den General.
„Das ist doch wohl Ihre Sache. Ich habe die
Aufmerksamkeit auf diese Thatsache nur gelenkt, um
Ihnen zu zeigen, auf wie schwachen Füßen Ihre An-
nahme steht, aber wenn Sie es wünschen, will ich Ihnen
sagen, welche Schlüsse sie mir nahe legt."
Der Richter verbeugte sich zustimmend.
„Die bloße Thatsache, daß der Zug angehalten
wurde, hätte an sich wenig zu bedeuten. Das könnte
die natürliche Handlungsweise eines furchtsamen oder
erregbaren Menschen sein, der sich plötzlich, wenn auch
nur mittelbar, in eine solche Katastrophe verwickelt
sieht. Verdächtig wird diese Handlung erst dadurch,
daß derjenige, welcher sie begangen hat, sie leugnet.
Die nächstliegende Annahme ist die, daß er einen Grund
hatte, den Zug zum Halten zu bringen, und zwar einen
Grund, den er nicht eingestehen kann."
„Und dieser Grund wäre — ?"
„Das sehen Sie doch gewiß auch ohne meine Hilfe!
Er wollte einer andern Person Gelegenheit geben, den
Wagen zu verlassen."
„Aber wie wäre das möglich gewesen? Sie, oder
irgend einer von Ihnen hätte diese Person gesehen,
besonders in einem so wichtigen Augenblick. Der Gang
des Wagens stand voll Menschen, so daß ihn niemand
unbemerkt durch eine der beiden Thüren hätte ver-
lassen können."
„Meine Annahme geht dahin — es ist bloß eine
Annahme, das dürfen Sie nicht vergessen —, daß die
Person den Wagen schon verlassen hatte — das heißt,
das Innere des Wagens."
„Verlassen? Wie? Wo? Was wollen Sie sagen?"
„Durchs offene Fenster der Abteilung, worin der
Ermordete gefunden worden ist."
„Also das offene Fenster haben Sie auch bemerkt?"
fragte der Chef rasch. „Wann?"
„Sowie ich die Abteilung beim ersten Lärm über
das Geschehene betrat. Es fiel mir sofort ein, daß
jemand hinausgeklettert sein könnte."
„Aber ein Frauenzimmer hätte das doch unmöglich
fertig gebracht. Aus einem mit voller Geschwindigkeit
fahrenden Expreßzug zu klettern, ist ein für eine Frau
unausführbares Kunststück," sprach der Chef eigen-
sinnig.
„Warum, in Gottesnamen, reiten Sie immer auf
dem Gedanken herum, daß es eine Frau gewesen sein
müsse? Weshalb soll es denn eher eine Frau gethan
haben, als ein Mann?"
„Weil —" hob der Richter an, aber infolge einer
Gebärde des Einspruchs, die Flo^on machte, hielt er
inne. Der kleine Chef war über den vollständigen
Mangel an Zurückhaltung, dessen sich sein Kollege
schuldig machte, sehr bekümmert.
„Weil," fuhr der Richter entschlossen fort, „weil
dies in der Abteilung gesunden worden ist," dabei
reichte er dem General das Stückchen Spitze und die
Jettfranse zur Besichtigung. „Sie haben diese Gegen-
stände gewiß schon gesehen, oder einen davon, oder
etwas Aehnliches. Ich bin dessen sicher; ich fordere Sie
aus, ich verlange von Ihnen — nein, ich wende mich
an Ihre Ehre, Sir Cottingham, sagen Sie mir, bitte,
alles, was Sie wissen."
10.
Eine Weile saß der General schweigend da und
betrachtete das Stückchen Spitze und die zerbrochenen
Perlen.
„Es ist meine Pflicht, nichts zu verschweigen,"
sprach er endlich fest, „lieber die Spitze will ich nichts
sagen, denn das könnte ich nicht beschwören. Für mich
— und wahrscheinlich für die meisten Männer —
sehen zwei Stücke Spitze ziemlich gleich aus. Diese
Perlen aber glaube ich" schon gesehen zu haben, oder
wenigstens ganz ähnliche."
„Wo? Wann?"
„Sie bildeten einen Teil des Besatzes eines Man-
tels, den die Gräfin di Castagneto trug."
„Aha!"
Das war der Ruf, den alle drei Franzosen gleich-
zeitig ausstießen, aber er hatte bei jedem von ihnen
einen verschiedenen Klang. Beim Untersuchungsrichter
kam tiefes Interesse, beim Ches Frohlocken und beim
Kommissar eine Entrüstung zum Ausdruck, als ob er
einen Verbrecher aus frischer That ertappt hätte.

Zllustrirte Mell.

„Hat sie diesen Mantel auf der Reise getragen?"
fuhr der Richter fort.
„Darüber kann ich nichts sagen."
„Aber Herr General! Sie sind doch beständig bei
ihr gewesen, und Sie müssen uns etwas darüber sagen
können. Wir bestehen darauf!" rief der jetzt seiner
Sache sichere Flo^on ärgerlich.
„Ich wiederhole, daß ich nichts darüber sagen kann.
Soviel ich mich entsinne, trug die Gräfin einen langen
Reisemantel, einen Ulster, wie wir es nennen. Die
Jacke mit diesem Perlenauspuh kann sie darunter ge-
tragen haben, und wenn ich sie gesehen habe — wie
ich das glaube — so war es nicht auf dieser Reise."
„Die Durchsucherin hat keinen zweiten Mantel ge-
funden," flüsterte der Untersuchungsrichter leise Herrn
Flo-on zu.
„Wie können wir wissen, ob sie gründlich gesucht
hat," antwortete der Ches. „Hier haben wir doch eine
bestimmte Aussage in betreff der Perlen. Endlich zieht
sich das Netz um die saubere Gräfin zusammen. —
Auf jeden Fall," fuhr er laut fort, indem er sich wieder
dem General zuwandte, „sind diese Perlen in der Ab-
teilung des Ermordeten gefunden worden. Wie er-
klären Sie das, wenn ich bitten darf?"
„Ich? Wie kann ich das erklären? Und diese That-
sache hat außerdem nichts mit der Frage zu thun, die
wir erörterten, nämlich ob jemand den Wagen ver-
lassen habe."
„Warum nicht?"
„Nun, daß die Gräfin den Wagen nicht verlassen
hat, steht doch fest, und daß sie die betreffende Ab-
teilung zu einem früheren Zeitpunkt betreten habe, ist
höchst unwahrscheinlich. Es ist sogar eine Beschimpfung
für sie, so etwas anzudeuten."
„Die Gräfin und dieser Ouadling waren eng be-
freundet."
„Das behaupten Sie. Auf Grund welcher Beweise
ist mir unbekannt; aber ich bestreite es."
„Wie sind denn aber die Perlen dahin gekommen?
Sie waren ihr Eigentum, und sie trug sie."
„Früher ja, das gebe ich zu, aber doch nicht not-
wendigerweise auch auf dieser Reise. Wenn sie nun
den Mantel verschenkt hätte — zum Beispiel ihrer
Kammerjungfer? Ich glaube, es kommt häufig vor,
daß Damen ihre abgelegten Sachen ihren Dienstboten
schenken."
„Aber verehrter Herr General, diese Annahme ist
doch etwas sehr gemacht. Die Kammerjungfer — ob
sie etwas mit der Sache zu thun hat, ist bis jetzt noch
gar nicht in Betracht gezogen worden."
„Dann möchte ich Ihnen doch raten, das alsbald
zu thun. Sie ist nach meinem Dafürhalten — nun,
eine etwas sonderbare Person."
„Sie kennen sie — haben mit ihr gesprochen?"
„In gewissem Sinne kenne ich sie. Ich hatte sie
früher in der Via Margutta gesehen, und habe ihr
zugenickt, als sie zuerst in den Wagen kam."
„Und während der Reise — haben Sie unterwegs
häufig mit ihr gesprochen?"
„Ich? Lieber Gott, nein, gar nicht. Natürlich
habe ich ihr Thun und Treiben bemerkt; das war ja
unvermeidlich, und vielleicht wäre es meine Pflicht, ihrer
Herrin Mitteilung zu machen. Sie schien sich denn
doch etwas zu rasch mit den Leuten anzufreunden."
„Zum Beispiel —?"
„Zunächst mit dem Schaffner. Ich habe gesehen,
wie die beiden in Laroche in der Bahnhofsrestauration
zusammen am Schenktisch standen; dann mit dem
Italiener, dem Manne, der vor uns hier war; und
sogar mit dem Ermordeten. Sie schien sie alle zu
kennen."
„Wollen Sie damit sagen, daß uns das Mädchen
bei dieser Untersuchung von Nutzen sein könnte?"
„Ganz entschieden glaube ich das. Wie ich schon
gesagt habe, ging sie beständig im Wagen ein und aus
und verkehrte mit einigen der Reisenden aus mehr oder
weniger vertraulichem Fuße."
„Darunter ihre Herrin, die Gräfin?"
„Ich glaube," entgegnete der General mit einem
leichten Lächeln, „die meisten Damen stehen mit
ihren Kammerjungfern auf vertrautem Fuße. Man
sagt ja, kein Mann sei vor seinem Kammerdiener ein
Held. Mit dem andern Geschlecht wird es wohl ähn- !
lich sein."
„So vertraut," fuhr der kleine Chef mit boshafter
Betonung fort, „daß die Jungfer jetzt ganz ver-
schwunden ist, aus Furcht vor unbequemen Fragen
über ihre Herrin."
„Verschwunden? Sind Sie dessen sicher?"
„Sie ist wenigstens nicht aufzuffnden; das ist alles,
was wir wissen."
„Dann ist es so, wie ich gedacht habe. Sie ist es,
die den Wagen verlassen hat!" rief Sir Charles mit
solchem Ungestüm, daß die Beamten aus ihrer würde-
vollen Haltung aufgeschreckt wurden.
„Erklären Sie das!" antworteten sie zusammen
erregt und beinahe aus einem Munde. „Nasch, rasch!
Was in Gottes Namen meinen Sie?"

603

„Ich hatte von Anfang an meinen Verdacht und
will Ihnen auch sagen, warum. Wie Sie wohl schon
gehört haben werden, wurde der Wagen in Laroche
leer, das heißt, alle Insassen, mit Ausnahme der Gräfin,
gingen zum Kaffee in die Restauration. Ich war einer
der ersten, der damit fertig wurde, und schlenderte so-
dann auf dem Bahnsteig umher, um ein paar Züge
zu rauchen. Dabei sah ich, oder glaubte ich das Ende
einer Schleppe im Schlafwagen verschwinden zu sehen.
Ich nahm an, daß es Hortense, die Kammerjungfer,
sei, die ihrer Herrin eine Tasse Kaffee bringe. Gleich
darauf kam mein Bruder zu mir; wir sprachen noch
eine Weile miteinander und stiegen dann zusammen
wieder in den Wagen."
„Durch dieselbe Thür, worin Sie die Schleppe
hatten verschwinden sehen?"
„Nein, durch die andre. Mein Bruder giug in
unsre Abteilung, während ich noch im Gang blieb,
um meine Zigarette fertig zu rauchen. Als sich der
Zug wieder in Bewegung setzte, waren alle Reisenden
mit Ausnahme von einer wieder in ihre Abteilungen
gegangen, und auch ich war im Begriff, mich noch
etwas hinzulegen, als ich deutlich hörte, wie der Thür-
griff der Abteilung, die, wie ich wußte, während der
ganzen Fahrt leer gewesen war, gedreht wurde."
„Das war die Abteilung mit den Betten Nr. 11
und 12?"
„Wahrscheinlich; es war die neben der Gräfin. —
Nicht nur wurde der Thürgriff gedreht, sondern auch
die Thür etwas geöffnet." —
„Es war doch nicht der Schaffner?"
„O nein, der saß auf seinem Platz — Sie wissen
ja, am Ende des Wagens — in tiefem Schlafe und
schnarchend. Ich konnte ihn hören."
„Kam jemand aus der unbesetzten Abteilung
heraus?"
„Nein, aber ich war fast sicher, und ich glaube,
ich könnte es beschwören, daß ich denselben Frauenrock,
eben den Saum eines schwarzen Rocks einen Augenblick
vor dem Rand der Thür erscheinen sah. Dann wurde
plötzlich die Thür wieder fest zugemacht."
„Was schlossen Sie daraus? Oder haben Sie sich
nichts weiter dabei gedacht?"
„Sehr wenig. Ich glaubte, die Jungfer wolle bei
ihrer Herrin sein, wenn wir uns Paris näherten, und
ich hatte von der Gräfin gehört, daß der Schaffner
deshalb viele Schwierigkeiten machte. — Aber Sie
sehen, daß nach dem, was Vvrgefallen war, Grund zum
Anhalten des Zuges vorlag."
„Sehr richtig," gab Flo^on bereitwillig zu, aber
mit kaum verhehltem Hohn, denn jetzt war er voll-
kommen überzeugt, daß die Gräfin die Notleine gezogen
hatte, um die Flucht ihrer Jungfer, ihrer Verbündeten
und Mitschuldigen, zu ermöglichen.
„Und Sie sind noch immer der Ansicht, daß jemand,
wahrscheinlich dieses Frauenzimmer, während des Halts
den Wagen verlassen habe?"
„Ich möchte wenigstens auf die Möglichkeit Hin-
weisen. Ob es wirklich der Fall ist, oder möglich sein
könnte, das zu entscheiden, muß ich Ihrem bessern Ur-
teil überlassen."
„Was? Da soll ein Frauenzimmer hinausklettern?
Bah! Das machen Sie doch einem andern weis!"
„Sie haben doch natürlich die Außenseite des Wa-
gens untersucht, Herr Kollege?" fragte der Unter-
suchungsrichter jetzt.
„Selbstverständlich habe ich das einmal gethan,
aber ich will die Untersuchung wiederholen. Die Außen-
seite ist aber ganz glatt, und es ist kein Laufbrett
vorhanden. Nur ein Akrobat könnte auf diese Weise
entkommen, und auch das nur mit Lebensgefahr. Aber
eine Frau, nein, nein, davon kann gar keine Rede
sein."
„Wenn ihr jemand hülfe, könnte sie, meine ich,
wohl aufs Dach des Wagens gelangen," warf Sir
Charles rasch ein. „Ich habe aus dem Fenster meiner
Abteilung gesehen. Für einen Mann würde das eine
Kleinigkeit sein, und auch für eine Frau nicht sehr
schwer, wenn ihr geholfen würde."
„Das wollen wir uns doch selbst einmal ansehen,"
entgegnete der Chef unfreundlich.
„Je früher, desto besser," fügte der Richter hinzu,
und die ganze Gesellschaft erhob sich von ihren Stühlen,
in der Absicht, sich nach dem Wagen zu begeben, als
ein Schutzmann eintrat, dem ein englischer Offizier in
Uniform auf dem Fuße folgte. Der Schutzmann suchte
diesen zurückzuhalten, was ihm indessen nicht gelang.
Es war der Oberst Papillon von der Botschaft.
„Holla, Jack! Das ist sehr gut von Ihnen!" rief
der General, indem er dem Offizier rasch entgegenging
und ihm die Hand schüttelte. „Ich wußte, daß Sie
kommen würden!"
„Kommen, Herr General? Das verstand sich doch
von selbst. Ich wollte gerade zu einer dienstlichen
Verrichtung reiten, aber Seine Excellenz bestand dar-
auf, daß ich hierher eilen sollte. Mein Pferd stand
vor der Thür, und da bin ich."
Alles dies wurde in englischer Sprache verhandelt.
 
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