Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins zu München — 1879

DOI Heft:
Heft 9/10
DOI Artikel:
Ranke, Johannes: Anfänge der Kunst, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6905#0072

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
68

waren. Ich kann in den: primitiven Aunstwerke nur eine freistilisirte Nachbildung eines Stierkopfes erkennen,
weniger formgeschickt, aber in: Prinzip der Nachbildung des pirfches nnt dein zurückgelegten Geweih aus der
Dordogne verwandt.

Eine zweite Schnitzerei, welche wohl auch einst das Griffende eines Messers zierte, zeigt eine merkwürdige
Doppeldarstellung. Von der einen Leite erkennen wir ein wohlausgeführtes, zieinlich langgestrecktes Pferdeköpfchen,
von der anderen Leite erscheint das Näpfchen eines pasen mit langen, ebenfalls wie die pörner des Ltierkopfs,
um das Abbrechen zu vermeiden, zur Leite gelegten Ohren.

Das find die wichtigsten jener vielbesprochenen Beweise der ältesten Aunstentwicklung der europäischen
Urmenschen.

Mir können ihnen einen relativ hochentwickelten Linn für Naturbeobachtung nicht absprechen; wir
müssen sie, wenn auch als primitive, doch als wahre Aunstwerke gelten lassen.

Mir sehen bei den uncivilisirten Racen ebenso wie bei unseren Aindern, daß das Verständniß für Nach-
ahnmng von Naturobjekten dem Verständniß für Linienornamentik in geometrischen und phantastischen Mustern
vorausgeht oder sich wenigstens schon gleichzeitig nnt dem letzteren entwickelt.

Aus den zahlreichen Beweisen, welche uns die Ethnographie liefert, daß uncivilisirte Völker auch ohne
Aenntniß der Metalle einen relativ entwickelten Kunstsinn zeigen können, greise ich als Beispiel die Aunst der
Eskimos heraus. Die Eskimos leben unter ähnlichen äußeren Lebensbedingungen wie die alten Pöhlenjäger
Europas in einein kalten Alima vorwiegend von Fischfang und der Jagd des Renthiers, und sie verstehen es
wie jene, Zeichnungen in Anochen und Treibholztäfelchen sowie Lchnitzereien in Bein und porn auszuführen.

Lir John Lubbock veröffentlichte eine Anzahl von Eskimozeichnungen (Gravirungen) auf Anochen,
welche Lcenen aus der Jagd und dem Fischfang, das Ltillleben int Pause, Spiele der Ainder u. A. m. darstellen.

perr Professor Ecker zeigte bei dem deutschen Anthropologen-Eongreß zu Eonstanz Eskimozeichnungen
auf Treibholztäfelchen gravirt, welche etwa dieselben Gegenstände behandeln. Namentlich charakteristisch sind die
Darstellungen von Fischen und dem Eisbären. Auf den Lubbock'schen Abbildungen sind die Renthiere besser
gelungen, eines derselben entspricht in Ausführung und Stellung des Aörpers und der Beine auffallend jenem
aus der Thayinger-Pöhle.

Die Lchnitzereien aus Anochen stellen bei den Eskimos wie bei den europäischen Urmenschen die
häufigsten Iagdthiere dar, also dort den Seehund, den Eisbären. Auch Menschen finden sich gelegentlich auf
diese Meise dargestellt. Lehr charakteristisch scheint es mir für eine primitive Geschmacksrichtung, daß sich unter
den Eskimosschnitzereien auch solche Doppeldarstellungen finden, wie das Thayinger Pferdehasenköpfchen: Eisbär
und Seehund, zwei zusammenhängende Menschenbüsten.

II.

An den vorhin geschilderten pöhlenkunstwerken aus der Schweiz und Lüdfrankreich fällt besonders ihr
unmittelbarer Stand auf mitten zwischen Resten einer in höchster Beschränkung lebenden Iägerbevölkerung. Die
Pöhlenkunst erscheint auf den ersten Blick ohne Zusammenhang und Begründung in vorausgehenden Aunst-
übungen fertig aus dem Menschengeiste hervorgebrochen, wie die gewappnete Pallas aus dem Paupte des
Göttervaters. Oder sollte es uns doch gelingen, noch die Spuren einer früheren oder gleichzeitigen Aunstübung,
die Anzeichen einer Stufenleiter in der ursprünglichen Aunstentwickelung der Pöhlenbewohner nachzuweisen?

Meiner Meinung nach ist das der Fall und zwar sind es die textile und die keramische Aunst, welche
die ersten Grundformen und Principien der Ornamentirung und künstlerischen Ausschmückung lieferte.

Zunächst muß festgestellt werden, daß keineswegs die Gravirungen und die Naturobjekte darstellenden
Schnitzereien den einzigen Nachweis eines relativ ausgebildeten Aunstgeschmacks unserer Pöhlenbewohner liefern.
Man hat in Südfrankreich ebenso wie in der Thayinger pöhle Waffen und Werkzeuge aus Stein, Anochen und
porn gefunden,, welche nicht nur in ihrer äußeren Formgestaltung, sondern durch wahre Ornamente, lediglich zun,
Schmuck angebracht, Zeugniß von primitiven Aunstbestrebungen ablegen.

Namentlich die Funde des Aefflerloches und der benachbarten Freudenthaler pöhle, welche selbst keine
Thiernachbildungen geliefert hat, habe ich einem genaueren Ltudiuin unterworfen und es scheint mir aus der
Betrachtung der dort gefundenen Objekte mit aller Sicherheit ein Zusammenhang mit längst geübter Aunsttechnik
hervorzugehen.

Merkwürdiger Meise haben sich, was ein Beweis ihrer, wenn das Mort erlaubt ist, Gleichzeitigkeit ist,
in der Thayinger- und in der Freudenthaler-pöhle je ein eigenthümlichcs falzbeinähnliches Instrument ge-
funden mit vollkommen gleicher Ornamentirung. Diese Geweihstücke sind mit einem ziemlich rohen Messer
geschnitzt und geglättet, man erkennt noch deutlich die zufälligen Einrisse, welche durch Scharten des Schnitz-
instruments auf der sonst geglätteten Fläche hervorgebracht wurden. Zur Längenaxe des Instruments sind —
 
Annotationen