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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 1.1902-1903

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https://doi.org/10.11588/diglit.3547#0238

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gewiss eine grosse Steifheit hat, sicherlich unzuläng-
lich ist — und doch Interesse einflösst.

X

Bei Schulte hatte man etwas wie einen Blick auf
Eklektikerkunst: bei Cassirer gab die Munch-Aus-
stellungGelegenheit,fastanKinderkunst zu denken.
Wir alle kennen das Tagebuch des kleinen Moritz.
Diese Zeichnungen sind vor längerer Zeit ent-
standen. Oberländer hatte in ihnen eine Nach-
ahmung der Unbehülflichkeit der kindlichen Hand
in Verbindung mit einer Wiederhervorbringung
der Vorzüge des Kindes, auffallend scharf zu cha-
rakterisieren, geboten. Seitdem ist unser Anteil
an ursprünglichem, unmittelbarem Zeichnen aber
noch gewachsen. Gleichzeitig mit der stärker ge-
wordenen Abwendung vom Bravourhaften und
von der nichts enthaltenden geschickten Glätte hat
der Anblick der Leistungen der ob richtig ob falsch
so genannten Impressionisten auf uns alle gewirkt.
Wir lieben, durch sie, die gründlich sehen, den
augenblicklichen Eindruck einer Sache zu erhalten
und sind allen denen dankbar, die uns momentane
Eindrücke intensiv übermitteln. So wurden wir
allmählig für Munch reif, der seinerseits sich nicht
verändert hatte.

Jetzt lächeln wir über den Eifer, der seinerzeit
Munchs Bilder aus Ausstellungen vertreiben wollte.
Wir sehen nicht ein, dass diesen mit Eindringlich-
keit wirkenden Arbeiten der Zutritt zu unsern
Augen verschlossen werden soll. Zwar wenden
wir uns häufig von den symbolischen Bildern
des kühnen Norwegers ab, meinen auch, dass es
immer nur Wenige sein werden, die den Ansichten
von Dr. Max Linde beipflichten, die dieser in
seiner Broschüre „Edvard Munch und die Kunst
der Zukunft" (Friedr. Gottheiner, Berlin, 1902)
geäussert hat. Aber die nicht Rätsel aufgebenden
Bilder Munchs üben schon auf Viele bei uns eine
Wirkung aus und erregen das Interesse. Wir be-
wundern seine Empfänglichkeit für Stimmungen
der Landschaft und seine Gabe der Charakteristik
— und unter den radierten Frauenporträts, die wir
zuerst vor einigen Monaten bei Schulte sahen,
fanden wirsolche, die denVergleich mitden Werken
grosser Meister nicht zu scheuen hatten.

Bei Cassirer treten uns neben solchen vorzüg-
lichen radierten oder lithographierten Porträts
auch schon länger bekannte ältere Radierungen ent-
gegen, von denen wir nicht gesonnen sind, alle zu
bewundern. Nie haben wir beispielsweise in dem
jungen Mädchen, das wie die Tochter von „ich,
Anna Szillag" am Strande steht und ihre Haar-
prachtvonjemandembewundern lässt, der darüber
nachzudenken scheint, ob er sie ihr abschneiden
soll — und die Steine am Strande haben zum Teil
die Form von breiten Fischen angenommen — nie

haben wir begreifen können, was man an dieser
Radierung wohl schätzenswert finden sollte. Dann
ist eine aquarellierte Federzeichnung von Munch
ausgestellt, entsetzliche Mädchen in einem Tingel-
tangel — hier denkt man wirklich an Kinderzeich-
nungen, doch nicht in einem Munch freundlichen
Sinne. Blätter von ungemeiner Poesie entschädigen
dafür. Zwei Menschen, sich umarmend, an einem
Fenster, sind von hoher Schönheit. Auf einem
andern Blatte sieht man, wie ein Kind eine Gar-
dine lüftet, das Licht strömt herein — die Radierung
ist weit entfernt davon, in allen Teilen musterhaft
zu sein, dennoch erlaubt sie durch die Feinheit
eines einzelnen Teiles — der Beleuchtung —
selbst an das herrliche Bild Schwinds in der Schack-
galerie zu denken: das junge Mädchen, das in
der Morgenfrühe auf den Starnberger See hinaus-
blickt, und die Vorzüge und Nachteile der beiden
Arbeiten ernsthaft abzuwägen.

Unter den Bildern sieht man seltsame Marinen;
— ein Bauernhaus in der Nacht; — eine belebt an-
gefangene Skizze des Dichters Lie; — eine land-
schaftliche Stimmung im Regen; — einen Gerichts-
saal von einer merkwürdigen Intensität; — einen
schönen Landschaftsgedanken mit zwei Mädchen,
welche Blumen pflücken — dies ist ein sehr sym-
pathisches Bild von Munch — und ein grosses Bild
einer Sommernacht. Den tiefsten Eindruck unter
allen Bildern machte uns eine Porträtskizze, sig-
niert: E. Munch 9 5,einen Mädchenkopf darstellend.
Nicht oft sahen wir ein Porträt, in welchem so
viel „lag" und in welchem auch ausserdem das Ma-
terielle so gut angedeutet war — obwohl die Mittel
Munchs nicht ausreichten, um dieses Porträt zu
vollenden.

Jetzt ist eine Neo-Impressionisten-Ausstellung
bei Cassirer. Sie ergänzt unsere wiener Eindrücke.
Vuillard ist hier nicht so glänzend vertreten wie
in Wien, wenn auch sehr gut. Mit Bonnard be-
freunde ich mich auch hier nicht, trotzdem das
eine seiner Bilder, eine pariser Strassenscene bei
Nacht, besser ist als eins der in Wien ausgestellten.

Warum Bonnard, Roussel, Vuillard, Denis den
Neo-Impressionisten oder Pointillisten zugesellt
werden, von denen die belgischen und deutschen
Vertreter versammelt sind, habe ich nicht be-
griffen.

X

Bei Keller und Reiner ist eineThoma-Ausstellung.
Am besten gefiel mir der „Julitag."

Bei Amelang fand eine interessante Klinger-Aus-
stellung statt. Man sah die glänzenden Entwürfe
zu seiner Brahms-Phantasie, 1894 dem Kompo-
nisten zugeeignet, am schönsten die Entwürfe zu
„Feldeinsamkeit" und zu „Evokation". —Wie viel
grösser ist Klinger doch, wenn er erfindet und
radiert, als wenn er bildhauert! H.

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