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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 1.1902-1903

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Van de Velde, Henry: Die Belebung des Stoffes als Schönheitsprincip
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https://doi.org/10.11588/diglit.3547#0465

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den ersten prinzipiellen Aufstand gegen Rieh- Was die Interesselosigkeit und dann die
tungen, die die Künstler erschöpft hatten, Dummheit der Sujets eingeschläfert hatte, das
weil man von ihnen nichts als Phantasie ver- Leben, das in jedem Stoff, sei er Farbe, Stein
langte und sie nur nach dem Interesse oder oder Metall, Wort oder Ton schlummert,
dem Mitleid, das sie zu erregen verstanden, schickte sich an aufzuwachen. Ist dieses Er-
schätzte und lobte. Denn um jene Wirkungen wachen bewusst? Nicht bewusster als jedes
zu erreichen, die auf allen Kunstgebieten zu andere Erwachen. Und wir begnügen uns
Werken wie „Endlich allein" oder „Die noch oft mit einer Auffassung der Vorgänge,
Lebensmüden" geführt hatten, war es kaum die weniger klar ist als die, die uns jetzt also-
noch unentbehrlich, die Technik der Malerei, bald einleuchten wird.

der Plastik, der Dichtkunst oder der Kom- Schon mit dem Naturalismus nähern wir

position zu verstehen. uns einer dem Material gerechteren Auf-

Heute ist es klar, dass die naturalistische fassung von Kunst und Schönheit. Ihre vollste

Revolution ebensosehr gegen diesen Jammer- Wirksamkeit erreichte sie schliesslich im Im-

vollen Zustand der Technik gerichtet war pressionismus.

wie gegen die Herrschaft derjenigen Sujets, Was man Impressionismus nennt, ist ziem-

welche die Teilnahme des breiten Publi- lieh unbestimmt, und doch hat es von Anfang

kums beanspruchten und von der gesunden an etwas Klares und Bestimmtes bedeutet. Es

Freude an der Ausführung, der Technik, forderte für den Maler das Recht, auf seine

dem Material, abzogen. Leinewand die Impression, den Eindruck, fest-

Der Naturalismus steht uns noch so nahe, zubannen, den eine Landschaft oder ein Vor-
dass ich Ihnen seine Geschichte und die Stürme, gang in ihm erregt hatte, statt kleinlich genau
die er entfesselte, nicht wieder ins Gedächtnis alle Einzelheiten wiederzugeben, aus denen
zurückrufen brauche. Ich muss nur mit Nach- die Landschaft oder der Vorgang sich zu-
druck darauf hinweisen, dass er deshalb so sammensetzten. Der Maler erstrebte nichts
schnell und allseitig siegte, weil er die Technik weniger, als die Seelenbewegung eines Augen-
in der Malerei, der Plastik, der Litteratur und blicks ewig und mit der Stärke des ersten
der Musik wieder zu Ehren brachte. Der Moments leben zu machen. Der Impressionis-
Naturalismus sprengte die Sackgasse. In Frank- mus wusste, dass dies nur möglich sei durch
reich waren es die Maler Courbet, Millet, den Verzicht auf die Details, die die Aufmerk-
Manet; die Schriftsteller Flaubert, Zola, Mau- samkeit und das zergliedernde Auge des Malers
passant; die Bildhauer Carpeaux und Rodin; abgezogen hätten vom Rhythmus der Linien
in Deutschland etwas später die Maler Lieber- und Farben, deren Eigenschaften, Wechsel-
mann und Leibl und der Dramatiker Haupt- Wirkungen und Proportionen, deren Kontraste
mann, in Belgien der Schriftsteller Camille und komplementäre Ergänzungen den Fleiss
Lemonnier und der Bildhauer Constantin des Künstlers mehr erforderten, als jene De-
Meunier, die bei den ersten Abbruchsarbeiten tails, die seine Arbeit verlangsamen und sein
Hand anlegten und den Horizont wieder frei Gefühl erkälten müssen. Denn es ist in der
machten, den die gelehrten Gebäude, die an- That all jenes Flüchtige, Momentane, das zit-
spruchsvollen und schweren Aesthetiken uns ternd und pulsierend, lebensuggerierend, fest-
solange verborgen hatten. Plötzlich öffnet gebannt und erhalten werden muss.
sich ein Ausblick auf die Felder, das Leben, Die Anschauung, dass die Schönheit, die
die bewegte, pulsierende Wirklichkeit. Die das Kunstwerk verfolgt, am meisten vom Sujet
Schönheit, die wir in den Werken dieser abhänge, ist nunmehr entthront; und bald
naturalistischen Zeit wieder zu Gesicht be- werden wir Schönheit Werken nur noch
kommen, ist eine Schönheit, die der einzelnen unter strengeren und neuen Bedingungen zu-
Kunst eigentümlich ist, die aus dem Mate- sprechen,
rial entspringt, das diese Kunst verwendet. Wir vermögen ein Werk nur noch dann

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