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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 5.1907

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Heft 1
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Chronik
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Heinrich Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers.
Mit 132 Abb. München, Bruckmann 1905.

Die Vorzüge des Buches liegen in der Form der
Darstellung. Wölfflin besitzt die Kunst, das, was ihm
durch Kenntnis und Überlegung klar geworden ist, mit
der grössten Anschaulichkeit vorzutragen. Er versteht
es, die eigenen Vorstellungen von dem Charakter der
Kunstwerke und von ihrem Verhältnis zu einander durch
starke, sinnlich wirkende Wortbilder mit voller Schärfe
und Deutlichkeit im Leser zu erwecken. Auch das Selbst-
verständliche und Bekannte scheint selbständig durch-
dacht und erarbeitet zu sein und durch die eigenartige,
oft absonderliche Formulierung eine neue interessante
Färbung, eine neue Bedeutung gewonnen zu haben.
Auch der Kundige glaubt die Dinge nun klarer vor sich
zu sehen als vorher. Die Darstellung Wölfflins in ihrer
knappen, straffen Form, mit ihren scharf plastisch aus-
geprägten Bildern hat etwas Zwingendes, Endgültiges.
Allzu leicht jedoch drängt sich dabei das Wortbild an die
Stelle der Anschauung und beeinträchtigt die Selbständig-
keit des Lesers. Wissenschaftlich wäre das nicht un-
gefährlich, wenn Wölfflin sich nicht mit kluger Vorsicht
fast ganz auf die gesicherten oder als gesichert geltenden
Resultate der Forschung und Beobachtung beschränkt
hätte. Sein Buch geht nicht auf grosse Neuerungen
aus, es giebt keine neuen Gesichtspunkte zur Beurteilung
und zum Verständnis Dürers und auch im Einzelnen
bringt es über die Probleme in Dürers Leben und Ent-
wickelungkeine neuen Aufklärungen. ÜberdieSchwierig-
keiten gleitet die Darstellung mit geschickten Worten
hinweg, zu keiner der wichtigen Fragen nimmt sie klar
und entschieden Stellung, noch weniger bemüht sie sich,
einen Beitrag zu ihrer Lösung zu liefern.

Wo Wölfflin hie und da über Thatsächlichkeiten
eigene Hypothesen aufstellt, hat er keine glückliche
Hand. Der Sebastian (B. $6. S. 8y/86) dürfte eher als
mit dem Bilde Cimas, von dem er im Rhythmus und
im Temperament doch allzu verschieden ist, mit einer
Zeichnung Mantegnas etwa in der Art des Sebastian in
Äigueperse in Zusammenhang stehen. Die Zeichnung
der Venus in Florenz (S. 105) scheint mir doch richtiger
mit dem Meister M. Z. in Beziehung gebracht worden
zu sein; in Dürers Werk wird man jedenfalls eine in
Formbehandlung und Technik analoge Zeichnung ver-
geblich suchen. Der Ölberg (B. yi., s. S. 170) ist sicher
kein später Holzschnitt Dürers. Dem widerspricht schon
die Technik ganz entschieden. Das Blatt hat auch genau
das Format der kleinen Passion. Der wesentliche Unter-
schied der späten Olbergkompositionen von den frühen
liegt nicht in der Stellung Christi, die auch früher so vor-
kommt (vgl. z. B. den Holzschnitt, Schreiber No. 197),
sondern in der Isolierung seiner Gestalt. Die Linien
zwischen den Zeilen des Gebetbuches (S. 231) sind nicht
als Hilfslinien, sondern als Schmucklinien gedacht. Sie
finden sich häufig in gedruckten Büchern der Zeit, be-
sonders in livres d'heures. Noch heute werden so ver-
zierte Exemplare (regles) im Buchhandel höher bewertet.

Auf so freie Dekorationen wie die Dürers hat der
Rubrikator natürlich seine Linien nicht berechnet. Diese
und andere Irrtümer thuen dem Werte des Buches keinen
Abbruch. Man empfindet solche Hypothesen hier nur
als Fremdkörper in dem künstlerischen Organismus des
Werkes.

Eine Sicherheit undBestimmtheit der Bildvorstellung,
wie sie Wölfflin giebt, ist nur ermöglicht durch den ein-
seitigen Standpunkt seiner Betrachtung. Er hat gewiss
mit Bedacht sein Buch „die Kunst Albrecht Dürers" ge-
nannt. Er betont in der Vorrede, dass er „sich den Stoff
nach seiner Weise zurechtgelegt" habe. Es ist die herrische
Art der Modernsten — die übrigens von Pedanterie und
Doktrinarismus nicht allzu fern bleibt —, alle Erschei-
nungen gewaltsam dem eigenen Beobachtungsstand-
punkte zuzudrehen und durch künstlich scharfe Be-
leuchung einzelne Teile stark hervortreten zu lassen, ja
sogar durch eine Art von Suggestion die Empfindungs-
organe des Lesers für bestimmte Eindrücke besonders
reizbar zu machen. Wölfflin betrachtet Dürer wesentlich
unter dem Gesichtswinkel der Kompositionsprinzipien
der italienischen Hochrenaissance, er betont überall mehr
das Verhältnis der Form zum Inhalt als zur Natur. Wie
man Schongauers feine Biegungen nicht mit der langen
Elle, die für die gewaltigen Verhältnisse Michelangelos
passt, messen darf, so will denn auch bei Dürer die
Rechnung oft nicht recht stimmen. Sehr erfreulich ist
es, dass Wölfflin gegen die alte, nun allerdings über-
wundene, romantische Auffassung Dürers energisch
Stellung genommen hat. Trotzdem wird man aber wohl
bald auch in diesem klaren Menschen den Mystiker ent-
deckt haben.

Mit zerfleischender Analyse wird man der Kunst des
Strebenden nicht gerecht. Dürers Werk hält ihr Stand,
aber seinen Gehalt wird man so nicht ausschöpfenkönnen.
Es gehört dazu doch eine liebevoll mitempfindende Ver-
senkung auch in die Persönlichkeit des Künstlers, die
seine Vorzüge und Schwächen nicht nur aus seiner ge-
schichtlichen Aufgabe, sondern auch aus seinem Verhält-
nis zur Umgebung und vor allem zur Natur zu begreifen
sucht. Die Gefühlswerte, die künstlerischen Intimitäten
der Person hat Wölfflins scharfe aber kalte Reflexion
allzu sehr beiseite gelassen. Dürers Schaffen erscheint
zu bewusst, er selber wird zu sehr bloss als Faktor in
der Entwickelung, zu wenig als Subjektivität betrachtet.
Deshalb schenkt auch Wölfflin den technischen Bemüh-
ungen Dürers nur gelegentlich einige Aufmerksamkeit.
Er schliesst im Vorworte sogar dies Gebiet, sozusagen
das Studium der Epidermis des Kunstwerkes, ausdrück-
lich von seiner Betrachtung aus. Und doch hat Dürer
dies Ausfeilen des Äusseren, die Berechnung der feinsten
Wirkungen des Materials sicher nicht als die letzte seiner
Aufgaben angesehen. Will man den ganzen, grossen
Dürer schildern, so muss man eben auch den Dürer
„im Gehäus" zeigen. — An der äusseren Gestalt des
Buches ist das kalkig weisse, fettig glänzende Papier, ein
wahres Martyrium für die Augen, zu tadeln. P. K.

FÜNFTER JAHRGANG, ERSTES HEFT. REDAKTIONSSCHLUSS AM 24. SEPTEMBER. AUSGABE AM SECHSTEN OKTOBER NEUNZEHNHUNDERTSECHS
VERANTWORTLICH FÜR DIE REDAKTION: BRUNO CASSIRER, BERLIN; IN ÖSTERREICH - UNGARN: HUGO HELLER, WIEN I.

GEDRUCKT fN DER OFFIZIN VON W. DRUGULIN ZU LEIPZIG.
 
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