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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 5.1907

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Heft 2
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Moore, George: Erinnerungen an die Impressionisten, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4704#0087

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EDOUARD MANET, LA BRIOCHE

Leute vor seinem geistigen Auge, wie sie auf der
Leinwand dargestellt sind. Die Malerei kennt so
wenig Scham wie Whitman; Manet ist eine Art
koloristischer Whitman. Man sehe sich den Fuss des
Fräuleins an; er ist ohne Furcht, jemand zu be-
leidigen, und ohne das Verlangen, irgendwem zu
gefallen, wiedergegeben. War das nicht Whitmans
Fall? Der runde, weisse Arm Mademoiselle Gon-
zales' ist noch kühner wiedergegeben, denn ihm
fehlt jeder sexuelle Reiz, und das Bild wird wohl
gerade aus diesem Grunde Vielen gewöhnlich
scheinen. Auf dem spanischen Bild ist Manet ein
wenig vermummt, so wenig, dass man zaudert es
einzuräumen; aber man soll niemals zaudern,
etwas zu sagen. Hier ist er Manet und Goya,
während das Porträt Manet und nur Manet ist.

Dies Porträt ist ein Glaubensartikel. Er heisst:
„Kenne keine Scham als die: dich zu schämen."
Nie hat Manet mit weniger Scham gemalt. Es
gibt Manets, die ich lieber habe, aber das Porträt
von Mademoiselle Gonzales ist das, was England
braucht. In England hat jedermann Angst zu
beichten. Versteht es sich nicht von selbst, dass
wer so malt ohne Scham beichtet? Und wer dies
Gemälde bewundert, ist schon halb frei; die
Fesseln sind gebrochen und werden alsbald ab-
fallen. Vielleicht wird dieses Bild mithelfen, die
Krise heraufzuführen, nach der wir uns sehnen;
die geistige Krise, dass die Menschen wieder ihr
Leben für sich selbst ausdenken und nackt und
ohne Scham zur Natur zurückkehren.

(FORTSETZUNG FOLGT)

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