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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 5.1907

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Heft 12
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Zilcken, D.: Die Königsgräber von Saint Denis
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https://doi.org/10.11588/diglit.4704#0518

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keiner Epoche kommt die französische Kunst unserer
Stammeseigentümlichkeit und unserm Gemüt so
nahe, berühren, ja decken sich germanisches und
romanisches Empfinden.

Auch noch während der Renaissance behauptet
die Skulptur in Frankreich ihre Stellung über der
Malerei; sie leistet vielleicht sogar das Höchste,
was die französische Plastik überhaupt geleistet hat.
Wobei mir der Gedanke kommt, dass die unver-
kennbar starke Begabung der Franzosen für die sinn-
lichste aller Künste wohl ihren Grund in der emi-
nenten Sinnlichkeit dieses Volkes habe.

Für die Epochen der Gotik und Renaissance
haben die Grabdenkmale eine Bedeutung, die gleich
hinter der der religiösen Darstellungen kommt.
Sie wirken, wenigstens in der Gotik, manchmal
auch mit dem Ernst und der Feierlichkeit einer
religiösen Sache. Man nehme als ein Beispiel nur das
wundervolle Grabmal des Philippe Pot im Louvre:
acht lebensgrosse Figuren in schwarzen, das Gesicht
verhüllenden Kutten tragen, schwer schreitend, die
Grabplatte, worauf die Porträtfigur des Ritters liegt.
Noch eigenartiger, noch packender in ihrem re-
alistischen Ausdruck, aber mit den Leidtragenden
vom Grabmal des Philippe Pot unstreitig verwandt,
sind die sogenannten Pleureurs, eine Besonderheit
der französischen spätgotischen Kunst. Diese Pleu-
reurs oder Pleurants — hin und wieder begegnet
man auch einer Pleurante — sind Statuetten, häufig
Porträtfiguren von Hofleuten und Offizieren in
klösterlich anmutender Trauerkleidung, die, als
Schmuck und die Stelle von Reliefs einnehmend,
die Seiten der Sarkophage in regelmässigen Zwischen-
räumen umstehen. Die berühmtesten Pleureurs schuf
das Haupt der burgundischen Schule, Claux Sluter,
für das Grabmal Philipps des Kühnen von Burgund
und gerade an sie dachte ich, als ich oben sagte,
dass man zum ersten Male wie vor einer Offenbarung
vor dieser grossen, einfachen Kunst stehe, vor dieser
monumentalen Gewandbehandlung, diesen bedeu-
tungsvollen und leidenschaftlichen Gebärden, diesen
seltsam ausdrucksvollen Gesichtern, die die ganze
Stufenleiter schmerzlicher Empfindungen von er-
gebener Trauer bis zur Verzweiflung mit wunder-
barer Kraft und in den verschiedenartigsten Typen
wiedergeben. Von Jean de la Huerta, Antoine le
Moiturier und Anderen besitzen wir ähnliche Figuren
Trauernder — von denen übrigens viele, von ihrer
ursprünglichen Stätte entfernt sind, sich einzeln und
verstreut in den Museen befinden, und manche auch
in Wiederholungen verbreitet sind. Der Naturalis-

mus, worin die Gotik endigte, findet in den Pleu-
reurs eine seiner merkwürdigsten Äusserungen.

Eine andere, höchst eigenartige Besonderheit
der gotischen und der Renaissance-Grabmale, wobei
die Beeinflussung durch die kirchliche Kunst klar
zutage tritt, sind die sogenannten Gisants. Als Gisant
bezeichnet die französische Kunst die plastische Dar-
stellung eines nackten, liegenden Leichnams. Es ist
unschwer zu erkennen, dass die Anregung zu den
Gisants der Grabdenkmäler aus den Darstellungen
des Leichnams Christi hervorging. Bekanntlich pflegt
die ältere, die romanische und frühgotische Kunst
Christus am Kreuze mit einem von den Hüften lang
herabhängenden Gewände zu geben. Mit der fort-
schreitenden Entwicklung wird dann die Bekleidung
immer mehr verkürzt, bis der Reiz des künstlerischen
Problems alle Befangenheit besiegt, und der tote
Christus nur noch der Vorwand zur Darstellung
eines nackten Manneskörpers in dem besonderen
Zustand der Totenstarre wird. Dasselbe Problem
bietet natürlich der vom Kreuz abgenommene
Christus — und es war schliesslich auf jedes Grab-
denkmal zu übertragen, wenn man den Toten eben
einfach als Toten auf seinen Sarkophag hinlegte.
Dem Naturalismus der ausklingenden Gotik kam
ein solcher Gedanke in hohem Maasse entgegen,
und neben die oft sehr krassen Christusgestalten
treten die nicht minder realistischen Porträtfiguren
toter Fürsten und Fürstinnen. Handelt es sich dabei
um einen männlichen Körper, und ist er von dem
Orte seiner ursprünglichen Bestimmung verschleppt
worden, so weiss man heute bisweilen gar nicht
mehr, ob die Figur als religiöse oder profane Dar-
stellung gemeint war, wie etwa bei Pilon's ein-
drucksvollem Gisant im Louvre. Die Renaissance
verwendete die Gisants für ihre Grabdenkmale noch
häufiger, wandelte aber die Starrheit gern zu einer
grösseren Weichheit, und bei Frauenkörpern selbst
zur Üppigkeit.

Diese allgemeinen Kenntnisse von der Geschichte
der französischen Monumentalplastik sind für eine
künstlerische Würdigung der Königsgräber zu Saint
Denis unerlässlich. Wiederum aber lässt sich diese
Entwicklung kaum an einem anderen Orte so zu-
sammenhängend verfolgen wie gerade dort. Länger
als tausend Jahre war Saint Denis die Begräbnis-
stätte der französischen Könige. Aus der gotischen
Zeit finden wir eine Reihe sehr schöner und wert-
voller, aus der Renaissance neben anderen guten
drei der hervorragendsten Denkmale, die die fran-
zösische Kunst überhaupt besitzt. Die grössten

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