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Kunst der Nation — 3.1935

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Preetorius, Emil: Kunst und Natur
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Carls, Carl Dietrich: Ernst Barlach als Dramatiker: zu seinem 65. Geburtstag am 2. Januar 1935
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https://doi.org/10.11588/diglit.66551#0002

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Kunst der Nation

2

lich sind oder kultische Zeichen? Undenkbar wäre
das Wohl nicht.
Aber kehren wir einmal zu unserem Baum
und Akt zurück und fragen uns, indem wir sie
recht gründlich betrachten: was ist es denn,
das Größe, Lebendigkeit, Ausdruckskraft dieser
Zeichnungen wie aller freien Kunst gerade aus-
macht? Es ist allein die Tatsache, daß diese Frei-
heit erst gewonnen, erst errungen wurde aus
einer ganz besonderen Bindung. Es ist, daß dieser
freien Kunst ein Thema zu bewältigen anfgegeben
ist, das Eigenreiz genug hat, zur künstlerischen
Weiterzeugung, zum Nachbilden zu bewegen und
zugleich Eigenmacht genug dies Nachformen in
feste Grenzen zu binden. Die Anspannung


Hohe künstlerische Darstellung
zwischen dem zu bewältigen dell
Naturgebilde und dem bewälti-
genden Künstler, sie allein ist es ja, die
jenes besondere Leben schafft, jene besondere, ge-
heimnisvolle Spannung, die das echte Kunstwerk
erfüllen, und deren Grade zugleich die Grade sind
aller bildnerischen Qualität. Fallen aber jene
bindenden Grenzen, sind keine Formen mehr
vorgegeben als zwingend nachzubildendes Thema,
so fällt auch der Gegendruck, an dem der Bildner-
drang des schöpferischen Menschen sich zur Form
erst entwickelt, zur Form sich gleichsam bricht.
Ohne jene Grenzen, ohne jenen fruchtbaren
Gegendruck treibt der Bildnerdrang des Men-
schen gegenstandslos umher in des Wortes tief-
stem Sinne, bar jener innerlich gespannten Le-


Manieristische Darstellung
bendigkeit, des kennzeichnenden Wesens aller
echten Kunst.
Aber der zeugerische Reiz der Naturform nnd
ihre Macht, der künstlerischen Nachbildung feste
Grenzen zu setzen, sie bestünden freilich nicht ohne
eine tiefe, geheimnisvolle Verwandtschaft von
Kunst und Natur: beider Gebilde sind ja er-
wachsen aus dem gleichen, schöpferischen Ur-
grunde, der alles Lebendige gebiert. Und Jedem
wird das sofort erkenntlich, unmittelbar ersicht-
lich, der einmal zwei Geschöpfe der Natur ver-
schiedenen Schönheitsgrades, verschiedenen Ran-
ges formaler Bildung miteinander verglichen
hat: ein edles Pferd etwa, einen Vollblutaraber
mit einem Pferde geringerer Art. Bei einem
solchen Vergleich wird man notwendig mit genau

Naturalistische Darstellung


den gleichen Kriterien, Differenzen, Metaphern
operieren wie beim Vergleich zweier rangver-
schiedener Kunstwerke. Da wie dort, in Kunst
wie Natur liegt die höhere Formung in der grö-
ßeren Gesamtschlüssigkeit aller Teile zueinander,
in dem dichteren, zugleich klareren, gespannteren
Beisammen aller Einzelheiten, in der stärkeren
Lebendigkeit und Ausdruckskraft des Ganzen: es
liegt in der Evidenz der absoluten Notwendigkeit
des Soseins der edleren Gestalt, in der Evidenz
einer die Gesamtform durch wirke re-
den überspannenden Logik, wenn
man dies Wort der begrifflichen Welt in die der
Anschauung sinnvoll übertragen will.

So groß aber diese Verwandtschaft auch ist, die
Verwandtschaft der natürlichen Struktur mit der
künstlerischen, so bleibt das eingangs Gesagte
dennoch bestehen: Klirrst ist nicht Natur, sie sind
vielmehr zwei von einander artverschiedene Be-
zirke. Sollst wäre es nicht möglich, jenes Pferd
vollendeter Gestalt künstlerisch schlecht, das man-
gelhaftere künstlerisch vollendet nachzubilden. Und
so sehr auch der naive Künstler sich mühen mag,
die jeweilige Naturform in frommer Treue ge-
wissenhaft nachzuschaffen, in dem Glauben, ge-
rade mit solcher Mühe die Kunst zu gewinnen,
so wenig entstünde doch je ein Kunstwerk, wenn
dem Künstler dies Vorhaben wirklich gelänge.
Jedoch liegt wiederum in der so vielfach er-
wiesenen Tatsache, daß die Kunst immer dann
am reinsten und lebensvollsten erblühte, je inni-
ger, je selbstvergessener sie sich uni die Natur als
ihr ewiges Thema bemüht — in dieser Tatsache
liegt wiederum das Geheimuis der untrennbaren
Verbundenheit von Natur nnd Kunst, liegt der
tiefdeutige Sinn der Goethischen Verse: Natur
nnd Kunst, sie scheinen sich zu fliehen, und haben
sich, eh man es denkt, gefunden. — Ist dieser Zu-
sammenhang am Ende aber so seltsam? Ist nicht
der Mensch auch Natur? Sind nicht in ihm die
feinsten produktiven Kräfte der Natur aufge-
sammelt? Wie also sollte er, der Natur schöpfe-
rischstes Geschöpf, mit seinem Tun herausfallen
aus dem natürlichen? Und wenn er sich hundert-
mal krampfhaft darum bemüht, er vermag es
nahezu nicht: das gerade zeigen dem Betrachter
all jene Versuche, zu künstlerisch abstrakten For-
men zu gelangen. Reiz, Leben, jenes besondere
Etwas, das den Beschauer erregt, mitschwingen
macht, gewinnen diese abstrakten Malereien erst
dann, wenn sie gegen alles bewußte Wollen doch
wieder Dinge der sichtbaren Umwelt geben, wenn
auch in wer weiß welch' Phantastischer Umfor-
mung, Übertragung, Vergeistigung. Es sind ge-

Den Namen Ernst Barlach spricht bewegten
Herzens aus, wer Ehrfurcht empfindet vor jener
tiefen unwandelbaren Treue eines Menschen gegen
sich selbst, aus der allein wahrhaft große Lei-
stungen hervorgehen können. Dieses Beispiel
höchster Treue gegen Ursprung und Art, das in
der neueren deutschen Kunst wenige seinesgleichen
hat, gilt es gegen alle Mißdeutung zu schützen.
Mag das Urteil über Einzelwerke Barlachs lauten,
wie immer es will, niemals bestreiten können wird
man dem Künstler seine Verwurzelung im nor-
disch-deutschen Lebensraum, wie sie in seinem
Werk zu großer Einheit ausgeprägt ist.
Barlach ist ein Sohn des deutschen Nordens.
Er ist wie vor einimr Zeit Rlmwvunasrat bt W,
Droß in den Mecklenburgischen Monatsheften ans
seinem Stammbaum nachgewiesen hat, väterlicher-
wie mütterlicherseits rein niederdeutscher Her-
kunft. Barlachs hat es durch die Jahrhunderte
in Ostfriesland, Oldenburg, Bremen, Hannover,
Westfalen und besonders in Schleswig-Holstein
bis nach Dänemark hinaus gegeben. Ernst Bar-
lachs Vorfahren, die von einem 1753 im Meister-
buche der Eckernförder Schneiderzunft erwähnten
Gottlib Johann Barlag abstammen, saßen als
Handwerker, später als Theologen, Arzte, Ju-
risten und Kaufleute in Schleswig-Holstein. Die
aus diesen Tatsachen hervorgehende Zugehörigkeit
Barlachs zum niederdeutschen Lebensraum ist
ebenso deutlich abzulesen aus seiner Haltung
in Leben nnd Kunst. Als er, nachdem er Frank-
reich, Rußland und Italien bereist hatte, eines
Tages das schöne Florenz mit dem deutschen Nor-
den vertauschte, fühlte er sich zwar zunächst tief
ernüchtert; aber diese Ernüchterung weckte in ihm
etwas, das geschlummert hatte. In ihm löste es
sich und begann zu wachsen. Ein Bildwerk ent-
stand nach dem andern, Figuren von Hirten,
Bauern und Bäuerinnen, Gestaltungen einfacher,
der Erde nahen Lebens. Zur gleichen Zeit schrieb
er, Motive der nordischen Göttersage beschwörend,
ein Drama „Der tote Tag" nieder. Er mußte,
um schaffen zu können, in das Zwielicht des Nor-
dens zurückkehren, in dem alle Dinge ein zweites
Gesicht, eine gespenstische Doppelbedeutung an-
nehmen, Aus ihm wuchsen ihm seine Gestalten
zu. Hier sand er zu sich selbst.
In dem kleinen mecklenburgischen Güstrow
vergrub sich Barlach, um fortan, voll Vertrauen
der heimatlichen norddeutschen Landschaft sich
überlassend, ganz seinem Werk zu leben. Ihn
kümmerten nicht die Meinungen und Wünsche der
Zeit, er machte keine Konzessionen. Er hatte den
Mut, die Fülle des Lebens nicht draußen, sondern
in sich selbst zu suchen, nnd dieser Mut recht-
fertigte sich, denn was er in sich erhorchte, war
Leben in reichster Fülle. Nicht um die Wirklich-
keit, die Umwelt ging es ihm, sondern um das
innere Bild, in dem der Mensch die Umwelt sam-
melt, um die innere Schau, die nicht bei der
Wiedergabe der greifbaren Wirklichkeit stehen
bleibt, ihr vielmehr aus dem Erlebnis heraus
Gestalt verleiht. Wachträume, die ein Magier
des Nordens träumte, groß und bedeutungsschwer
— das ist Barlachs Werk.
Wie überragend groß die Gestaltungskraft
dieses Künstlers ist, geht aus der Tatsache her-
vor, daß er zwei weite Schaffensgebiete auszu-
füllen und als Plastiker nnd Dramatiker gleich
wesentliches zu schaffen vermochte. Vom Dra-
matiker Barlach soll hier vor allem gesprochen
werden. Immer wiederkehrendes Hauptthema
seiner Dramen ist das Ergriffenwerden des Men-
schen von einer neuen Erkenntnis seiner selbst,
von einem inneren Anruf, der ihn beunruhigt,
erschüttert, ihn nach dem Sinn der Dinge fragt
nnd ihn ans dem normalen Ablauf seines Lebens
herausschleudert. Gegen Zweckeinstellnng und Ge-
wohnheit erhebt sich anklägerisch die Seele. Im
„Armen Vetter" entlarvt der Selbstmörder Jver
den selbstsicheren Siebenwark in seiner seelischen

rade Sinnenhaftigkeit, Gegenstandsnähe, die sich
hinterrücks einschleichen um diese abstrakten Ge-
bilde, die geheim darin spuken, es ist die ver-
borgene Spannung zwischen vertraut-natürlichen
und fremd-erdachten Formteilcn, die auch jenen
abstrakten Versuchen etwa junger französischer,
spanischer und auch mancher deutscher Maler das
mitunter bizarr reizvolle Gepräge gibt. Wird
völlige Gegenstandslosigkeit aber wirklich einmal
erreicht, was nur in seltenen Fällen gelingt, ge-
lingen kann, so kommt ein blutlos-steriles, ein
dürr-doktrinäres Produkt dabei heraus: Zwitter-
ding von Ornament und geometrischer Figur, die
Beide nicht voll zu sich selber kamen.
Kunst, bildende Kunst im hohen, selbsteigenen
Sinne ist nicht möglich ohne das Medium unse-
rer gemeinsam sichtbaren Umwelt, ohne das Me-
dium der Natur. An ihr erst kann sie sich ent-
zünden, durch sie erst kann sie werden, sich ver-
wirklichen, ihre besondere Bindung und damit
ihre eigene Gesetzlichkeit gewinnen. Freilich: ist
die Kunst der Natur zu nahe verhaftet, zu einzel-
haft hingegeben, so gerät sie ebenso in Gefahr,
wie wenn sie sich zu weit von ihr entfernt: dort
die Gefahr des Naturalismus, hier die
Gefahr des Manierismus: Skylla und Cha-
rybdis seit je alles künstlerischen Gestaltens! Zwi-
schen diesen beiden Extremen muß die Kunst die
rechte Mitte finden, den schmalen, schweren Pfad
sich erringen eines unwägbaren Sowohl-Als auch.
Tiefsinnig heißt es darum bei dem begabtesten
Malvolke der Welt, den Chinesen: der Künstler
soll sein Werk schaffen wie der Seidenwurm sein
Gespinst webt, wie der Baum seine Blätter
treibt. Als Teil also der lebendig wirkenden
Natur soll auch der Künstler wirken, er soll
wirken wie sie: nicht nachahmend, sondern neu
schassend, nicht außerhalb ihrer mit erdachter
Formel, sondern in ihr und im Einklang mit der
Harmonie all' ihrer Gebilde.

Flachheit nnd scheidet ihn von Fräulein Jsenbarn,
seiner Braut. In den „Echten Sedemunds" über-
trägt Grude, der den Löwen Gewissen im Nacken
spürt, seine Unruhe auf die ruhigen Bürger einer

kleinen Stadt und fördert manchen dunklen Han-
del ans Licht. In der „Sündflut" steigert sich
das Aufgescheuchtsein der Welt zu einem unerbitt-
lichen Kampf zwischen Glaube und Unglaube,
zwischen Göttlichem und Irdischem.
Diese Vorgänge spielen sich jedoch nicht in ab-
strakter, symbolischer Sphäre ab. Milten in die
Wirklichkeit, die er um sich her erblickt, greift
Barlach hinein. Seine dramatischen Figuren, die-
jenigen der „Sündflut" fast ebenso sehr wie die
des „Blauen Boll" und des „Armen Vetter", sind,
in ihrer merkwürdig stoßweisen Sprech- und
Handlungsweise, typisch norddeutsche Gestalten.
Sie werden nicht Psychologisch zerfasert, sondern
aus einem runden seelischen Kern heraus ent-
wickelt. Wie in seinen Plastiken oft noch das
Unförmige des Holzes sichtbar bleibt, aus dem
sie geschnitzt sind, so tragen seine dramatischen
Gestalten Spuren einer schwarzen Stofflichkeit,
die sie eng an die Erde bindet. Selten wurden aus
der Besonderheit norddeutschen Lebens so saftige
Stücke herausgeschnitten, wie sie der Dramatiker
Ernst Barlach, ohne übermäßig um Einzelheiten
bekümmert zu sein, an sich reißen konnte. Noch
seltener gelang einem norddeutschen Dichter eine
so umfassende Umsetzung des landschaftlich Be-
sonderen in die Bereiche allgemeiner Bedeutung.
Das Verlangen, aus den Verstrickungen der
Welt der Materie befreit zu werden, beherrscht die
dramatischen Figuren Barlachs. Es ruft in ihnen
jene starken seelischen Spannungen hervor, die

oft kaum noch des Zutuns bedürfen, um ihr all-
tägliches Gleichgewicht zu erschüttern. Das Sinnen
und Sehnen dieser Menschen ist oft umso über-
raschender, als sie sich in der schlichten mecklen-
burgischen Umgangssprache, die mit plattdeutschen
Farbtönen untermischt ist, vernehmen lassen.
Aber auch die Sprache, so realistisch sie manchmal
behandelt ist, spiegelt die Grundstimmnng. Die
Menschen reden unscharf und bewegen sich um
einiges neben ihrer beabsichtigten Aussage her,
gerade so viel, daß ihre Worte in eine unwirk-
liche, von neuen Bedeutungen erfüllte Sphäre
hinübergleiten oder einen Hauch hintergründigen
Humors erhalten.
Pralle Wirklichkeit wird unter den Händen
des Dramatikers Barlach durchscheinend. Innen
und Außen treten in das innigste Verhältnis. So
kommt es, daß manchmal, gleich plötzlichen Farb-
veränderungen traumhaften Erlebens, Wand-
lungen der Bedeutung eintreten und daß man
in den Vorgängen eine merkwürdige Unterströ-
mung ahnt, die die Dinge vertieft und aus-
weitet. Und doch kann im selben Augenblick auch
alles wieder auf naheliegende Realitäten bezogen
werden.
Dem Dramatiker Barlach eignet dieselbe
Meisterschaft, durch geringe äußere Mittel Atmo-
sphäre zu schaffen, von der er in seiner Plastik
wundervolle Beispiele ablegt (erinnert sei nur an
die bekannte Figur des „Schäfers im Sturm").
Durch wenige Worte oder Sätze gibt er ganzen
Szenen den Atem. „Der Blaue Boll" beginnt:
„Immer noch leichter Nebel — eigentlich gar nicht
unsympathisch, Martha, was? Sieh diese ver-
wischte Perspektive, mag's Wohl leiden. — Es
kann mehr dahinterstecken, als man denkt, kann
anders kommen, als ausgemacht ist . . ." Diese
Worte geben den Ton an, der im ganzen Stück
nicht mehr verstummt, sie geben den Figuren
Stofs zum Atmen und Schlucken und wecken zu-
gleich eine Ahnung der Hintergründe.
Und durch diese Bezirke bewegt sich nun Boll,
der mecklenburgische Gutsbesitzer, der bisher selbst-
sicher und ohne großen Gedankenaufwand dahin-
gelebt hat und den man wegen seines starken
Rotweingenusses den blauen Boll nennt. Mit
seiner Frau, der braven und etwas einfältigen
Martha, kommt er in die Kleinstadt, um Einkäufe
nnd Besorgungen zu machen, mit dem Bürger-
meister „wegen des Bullen" zu sprechen und sich
abends mit Vetter Prunkhorst im Hotel „Zur
goldenen Kugel" zum Rotspohn zu treffen. Der
Tag verläuft anders als vorgesehen, er wird zum
Schicksalstag Bolls. Boll
ist nicht mehr der alte,
fühlt sich in seiner Haut
nicht mehr Wohl. Ein zu-
nächst bedeutungsloser
Zusammenstoß mit dem
Grafen Ravenklau, der
als Leiter einer religiö-
sen Sekte eine Rolle
spielt, hat ein merkwürdi-
ges Unbehagen in ihm
zurückgelayim. Er ist an
sich irre geworden, ohne
es sich einzugestehen.
Diese Unsicherheit be-
stimmt den Verlauf die-
ses Tages. Boll nimmt
eine durch die Straßen
der Stadt irrende junge
Frau gegen ihren Mann,
den Hirten Grüntal, in
Schutz. Er führt mit ihr,
die er die Hexe Grete
nennt, hoch oben im
Gloßenturm ein dunkles
Gespräch über drei ins
Fleisch gebrachte arme
Kinderseelen, und auf ihr
Drängen verspricht er ihr
halb und halb, Gift zu
beschaffen, um diese See-
len aus dem Fleisch zu
erlösen.
Hernach steht er, bilf-
los und in Ausreden sich
windend, vor Grete, die
seiner Begehrlichkeit nichts
gewähren will, ohne vor-
her das versprochene Gist
von ihm erhalten zu ha-
ben. Von dem Wirt einer
fragwürdigen Kneipe läßt
sie sich hinter ver-
schlossene Türen bringen,
vor denen Boll armselig
und in kläglicher Verlas-
senheit zurückbleibt. (Diese
Teufelskneipe, ein regelrechter Vorraum zur Hölle,
ist eine der wenigen Stellen, an denen der Dra-
matiker Barlach das Nnr-Shmbolische gefährlich
hart streift). Dann sitzt Boll in der „Goldenen
Kugel" mit seiner Frau, dem aller Veränderung
und Verantwortung abgeneigten Vetter Prunk-
horst, dem Schuster Holtfreter und einem unbe-
kannten Herrn zusammen, den der Schuster vor-
stellt als „kurz heraus: Der Herrgott selbst, ein-
fach als pilgernder Mensch", und aus dem Ge-
spräch, das zwischen der handfesten Trunkenheit
Brunkhorsts und dem einfältigen religiösen Wahn
Holtsreters hin und her torkelt, wird Boll plötz-
lich von dem Gedanken an Grete angefallen. Er
holt sie aus der Teufelsküche und bringt sie zurück
in die Kirche, in der sie sich zu Anfang des
Stückes gegenüber standen. Nnd hier, zwischen
Pfeilern, Bogenfenstern nnd hölzernen Aposteln,
fühlt sich Boll verwandelt, ist entschlossen, „Aus
seinem ungeheuren Elendstal einzugehen in den
blanken Saal der guten Geheuerlichkeit". Von
Ahnungen des Todes angerührt, flieht er das
dumpfe Beharren und strebt zur Verantwortung
gegen sich selbst und die Menschen.
Aus legendenhaft einfachen Geschehnissen formt
sich ein einzigartiges Gleichnis des urewigen
Kampfes zwischen Geist und Fleisch. In dem
Helldunkel des Stückes treten auch sittliche und
seelische Fragen nicht mehr starr und dogmatisch
an uns heran. Barlach verficht keine Glaubens-
sätze, sondern zeigt alle inneren Kräfte seiner

Ernst Barlach als Dramatiker
Xu Seinern 65. 6edurts1«A arn 2. Januar 1935


Ernst Barlach, Photo Heise 1934, Corp. Keystone View Co.
 
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