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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 10.1899

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Woermann, Karl: Die graphische Kunst der Eskimos
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https://doi.org/10.11588/diglit.5773#0050

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8;]

Die graphische Kunst der Eskimos.

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der Tierwelt einer und derselben Quelle zu entstammen
scheint. Man vergegenwärtige sich, dass auch die !
Eskimos, die heute eiserne und stählerne Grabstichel
von den Europäern erhalten haben, noch vor wenigen
Jahrzehnten ihre Ritzarbeiten nur mit Feuersteinspitzen
ausführten. Noch ein Kenner wie W. Boyd Dawkins
glaubte daher in den heutigen Renntierjägern Alaskas
die wirklichen Nachkommen jener Renntierjäger er-
kennen zu müssen, die am Ende der Eiszeit im Süden
Frankreichs jagten und schnitzten und stachen. Wir
werden dies um so weniger als erwiesen oder auch
nur als wahrscheinlich ansehen, als auch die Känguruh-
jäger Australiens und die Antilopenjäger der Kalahari-
wüste Afrikas mit jenen ausser- und vorgeschichtlichen
Renntierjägern die Gabe und die Neigung teilen, recht
unmittelbar erfasste und geschickt wiedergegebene
Abbilder ihrer heimischen Tierwelt zu zeichnen.
Aber die Bedeutung, die gerade die Eskimokunst für
die Erforschung der »Anfänge der Kunst" hat, tritt
durch ihre Verwandtschaft mit der Urkunst der Höhlen-
bewohner der Dordogne doch mit besonderer Deut-
lichkeit hervor.

Zunächst zeigen die Eskimos Nordamerikas, wie
ihre Verwandten, die Tschuktschen jenseits der Bering-
strasse, sich auf dem Gebiete der kleinen Tierplastik
in Knochen, Mammutelfenbein, Renntierhorn und Wal-
rosszahn als die nächsten Erben der Renntierkünstler
der europäischen Urzeit. Ihre menschlichen Gestalten,
wie die tschuktschischen Figuren des Stockholmer
Museums, sind offenbar um nichts schlechter, wenn
auch besser erhalten, als die urzeitlichen Menschen-
schnitzbilder Südfrankreichs im vorgeschichtlichen
Museum zu Paris. Ihre Tiergestalten stehen an warmem
Eigenleben und künstlerischer Durchbildung allerdings
hinter den besten urzeitlichen Leistungen derselben
Art zurück; aber in den Gesamtumrissen sind sie
doch richtig gesehen und wiedergegeben; und die
Fülle der arktischen Tiere, die dargestellt werden,
setzt uns in Erstaunen. Hauptsächlich sind es die
grossen Säugetiere des Meeres: Walfische, Walrosse,
Seehunde, Robben jeder Art; Eisbären, Füchse, Wasser-
vögel kommen hinzu; gerade die Renntiere aber, die
in der Plastik jenes Urvolkes, wie auch in den Ritz-
zeichnungen der Eskimos, eine hervorragende Rolle
spielen, fehlen unter ihren plastischen Arbeiten. Die
Körperformen des Renntieres sind den arktischen
Naturbildnern offenbar zu reich und zart gegliedert.

Weit mannigfaltiger noch aber sind die Ritz-
zeichnungen der Eskimos auf Pfeilstreckern, Bohrer-
bügeln, Kisten- und Eimergriffen, Tabakpfeifen u. s. w.,
deren Enden auch nicht selten plastisch in Tier-
köpfe auslaufen. Die eingeritzten Zeichnungen pflegen
mit schwarzer, seltener mit roter Farbe ausgefüllt
zu sein. Geometrische Verzierungen sind nicht eben
selten, gehen aber, wie schon Grosse bemerkt hat,

1 soweit sie technischen Ursprungs sind, nicht über
: die einfachsten Motive des Bandes, der Naht, des
Saumes hinaus; Kreisverzierungen, auch koncentrische
Kreise, sind häufig; Spiralen und Mäander aber fehlen,
wie die ganze Kunststufe der Jäger- und Fischervölker
sie noch nicht kennt. Der weitaus grösste Teil der
Zierdarstellungen dieser Art ist aber wieder der
nordischen Natur, dem heimischen Leben, der ark-
tischen Tierwelt entlehnt. Von einfachen Zierreihen
ausgespannter Tierhäute, weidender Renntiere in den
verschiedensten, lebendigsten Stellungen, aus dem Wasser
emportauchender Walrosse, hintereinander her schwim-
mender Fische und rhythmisch gegliederten Reihen
verschiedener Tiere dieser Art geht diese Zierkunst
zu bilderschriftartigen Darstellungen, zu schamanischen
und mythologischen Zeichnungen, vor allen Dingen
aber zu bildlichen Erzählungen aus dem Leben der
Eskimos über, und zwar kann der Übergang auch
hier ebensowohl in der umgekehrten als in der an-
gegebenen Richtung erfolgt sein. Die Grenze zwischen
Sittenbildern und Geschichtsbildern lässt sich unter
diesen bildlichen Erzählungen nicht ziehen. Bewun-
derungswürdig aber ist die Unmittelbarkeit, Deutlich-
keit und Lebendigkeit, womit diese Naturkinder, die
den menschlichen Kopf nur durch eine schwarze
Scheibe darstellen, zeichnerisch zu erzählen wissen.

Die Hauptsammlungen, in denen man die Eskimo-
kunst in Deutschland studieren kann, sind die Museen
für Völkerkunde in Berlin und München. Weit reich-
haltiger noch aber sind die Sammlungen des Handels-
Museums zu San Francisco und des mit der Smith-
sonian Institution verbundenen National-Museums zu
Washington.

Das oben angeführte neue Buch über die graphische
Kunst der Eskimos, das zu den amtlichen Veröffent-
lichungen des National-Museums zu Washington ge-
hört, schliesst, wie sein Titel sagt, die Betrachtung
jener Kleinplastik der Polarvölker aus, hält sich fast
ausschliesslich an die in der amerikanischen Bundes-
hauptstadt ausgestellten Gegenstände und beschränkt
sich geflissentlich auf die Schilderung der Ritzarbeiten
der gedachten Art, weniger geflissentlich auf die Ritz-
arbeiten der Eskimos von Alaska; denn eigentlich nur
diese sind die Träger dieser „graphischen Kunst",
die z. B. den grönländischen Eskimos fremd ist.

In seiner Beschränkung überschüttet Hoffman's
Werk, das jeder, der sich mit diesen Studien beschäf-
tigt, dankbar begrüssen wird, uns förmlich mit neuem
Stoffe und neuen Abbildungen. Enthält es doch zu
217 Oktav-Seiten Text nicht weniger als 82 Ab-
bildungstafeln, auf deren mancher ein Dutzend
und mehr der in der gedachten Art verzierten Gegen-
stände in Autotypien nach Originalphotographien
wiedergegeben sind, und bringt es dazu im Texte
doch obendrein noch 153 Einzelabbildungen! Eine
 
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