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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 11.1900

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Dehio, Georg: Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5771#0146

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275

Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik.

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geschoben wird, so werden Missverständnisse an der
Tagesordnung sein, bis der ältere Sprachgebrauch
völlig verdrängt ist. Schwerlich aber werden die Reform-
freunde uns das in Aussicht stellen können. Wir
werden es immer mit zwei Renaissancebegriffen zu
thun haben, einem engeren (dem alten) und einem
weiteren (dem neuen) und es wird eine stete Ver-
legenheit sein, wie man den Hörer oder Leser vor
Verwechslung behüten soll. Eine vorhandene Ter-
minologie verbessern heisst: sie verschärfen, verdeut-
lichen. Wir sind deshalb bisher immer weiter in der
Differenzierung gegangen. Wir unterscheiden heute
genau zwischen altchristlichem, byzantinischem, roma-
nischem Stil, die vor fünfzig Jahren noch als Einheit
erschienen; wir haben die süd- und nordniederländische
Malerei trennen gelernt; wir haben uns bemüht, den
Barock von der Renaissance zu sondern und vom
Barock den Rokoko und Zopf. Was jetzt gefordert
wird, ist das Gegenteil von Differenzierung. Indem
die Grenzen der Renaissance einerseits tief ins Mittel-
alter zurückgeschoben, andererseits bis ans Ende des
18. Jahrhunderts vorgerückt werden, wird der ganze
Begriff in eine andere Kategorie gestellt. Er umfasst
nicht mehr einen geschlossenen Stil, sondern ein lang-
gedehntes Zeitalter; er steht nicht mehr parallel den
Begriffen »romanisch«, »gotisch« u. s. w., sondern
parallel dem Begriff Mittelalter«, ist also nur ein
anderer Ausdruck für das, was wir sonst »Kunst der
Neuzeit« nennen. Was kann man praktisch mit einer
Stilbezeichnung anfangen, unter deren Dach die van
Eycks, Raphael und Rembrandt, das Ulmer Münster,
die Peterskirche in Rom und der Zwinger in Dresden
gleichmässig Platz finden? Gesetzt, die Reform dränge
durch, was wird man sich künftig dabei noch denken
können, wenn von einer Statue, einem Möbel, einem
Ornament gesagt wird, ihr Stil sei der der Renaissance?

Aber sehen wir auch von diesen weiteren Kon-
sequenzen ab — obschon sie unvermeidlich sind —
und fassen allein das fünfzehnte Jahrhundert ins Auge,
so muss auch hier die Mangelhaftigkeit einer Termino-
logie, welche die italienische und die nordische Kunst
unter einen Namen stellen will, einleuchten. Denn
selbstverständlich könnte der Begriff nur aus solchen
Eigenschaften bestimmt werden, die beiden Teilen
gemeinsam sind; was aber nicht gemeinsam ist, hätte
mit ihm nichts zu thun. Nichts zu thun also hätte
mit diesem Renaissancebegriff die Antike; nichts zu
thun die bisher sogenannte Renaissancekultur, da sie
für den Norden nicht besteht; ja nichts zu thun sogar
ein grosses Gebiet der Kunst selbst, nämlich die
tektonischen Künste, als welche im Süden handgreif-
lich von der Antike abgeleitet, im Norden uner-
schüttert gotisch sind. Genug, es blieben als
einzige, weil allein beiderseits verwendbare, Bestim-
mungen: der Realismus und Individualismus. Ihre
Wichtigkeit für die Renaissancekunst ist längst erkannt.
Aber unmöglich können sie allein die Renaissance
zur Renaissance machen, wie es auch nicht die Renais-
sance allein ist, die auf sie Anspruch erheben kann.

Dies führt uns zu den materiellen Irrtümern der
neuen Lehre hinüber. Die heute beliebte Meinung

j von der Unerheblichkeit der Antike1) für die genetische
Erklärung der Renaissance ist ebenso einseitig, wie
früher ihre Überschätzung. Es ist wahr: unmittelbare
Entlehnungen kommen nur in den tektonischen Künsten
vor; Malerei und Plastik sind davon frei. Aber ist
denn damit schon alles gesagt? Giebt es nicht auch
freiere, indirekte und imponderable Einflüsse? Wo
Maler und Bildhauer in innigem Einvernehmen, ja
oft in Personalunion mit der Architektur ihre Werke
schufen, wie könnten sie von dem antiken Geiste
unberührt geblieben sein? Und dann der ganze Unter-
grund erblicher Stammeseigenschaften, welche die Ita-
liener der Renaissance zu einem noch halbantiken
Volke, nach Jakob Burckhardt's Ausdruck, machten.
Darum war eine Renaissance im eigentlichen orga-
nischen Sinne, als eine aus den tiefsten Wurzeln der
Nation kommende Bewegung, nur in Italien möglich.
Was man sonst mit dem unbestimmten Ausdruck
»reinere Schönheit« der italienischen Renaissance als
Vorzug vor der nordischen zugesteht, ist eben diese
noch unverbrauchte Erb- und Stammesanlage. Da-
gegen war im Norden der durch das ganze Mittel-
alter hindurchgegangene Strom antiker Rezeption eben
beim Eintritt in das 15. Jahrhundert bis auf den
letzten Tropfen aufgebraucht und vertrocknet. In
keinem Jahrhundert, von Karl dem Grossen bis auf
Wilhelm I., ist die deutsche Kunst von der antiken
durch einen so weiten Abstand getrennt gewesen,
wie in diesem. Das ist sicher mit ein Grund, wes-
halb der italienischen Kunst die Überwindung des
Mittelalters so viel leichter und folgerichtiger gelang,
als der nordischen. In dieser machte, nach kräftigstem
Einsatz mit den Sluter und van Eyck, das moderne
Prinzip nur fragmentarische uud stockende Fortschritte
und am Ende des 15. Jahrhunderts waren Norden
und Süden weiter auseinander, als sie es am Anfang
desselben gewesen waren. Der Norden fühlte sich
zurückgeblieben, der Realismus allein hatte nicht ge-
nügt, ihn künstlerisch frei zu machen, er suchte Hilfe
bei der antikischen Art«.

Ich fasse zusammen: Die Bezeichnung Renaissance
in dem bisher üblichen Umfange ist unentbehrlich.
Ein daneben aufkommender zweiter Renaissancebegriff
mit erweitertem Geltungsbereich wäre nichts als ein
Spiel mit Worten, und ein durch seine Zweideutig-
keit verhängnisvolles. Wir sprechen ja von Renais-
sance nicht bloss in der Kunstgeschichte. Auch auf
anderen Gebieten wird Neubelebung eines vergessen
gewesenen Alten so genannt; und immer denkt man
dabei besonders gern an die Antike, wie wenn man
zum Beispiel das deutsche Geistesleben in der Zeit
Winckelmann's und Goethe's eine zweite Renais-
sance heisst. Dass aber etwas ganz neues, ganz
eigenes, wie die van Eyck'sche Kunst, auch Renais-
sance heissen soll, wird der gesunde Menschenverstand
niemals acceptieren. Zur Kennzeichnung des der
nordischen und der italienischen Kunst gemeinsamen

1) Noch schärfer Moriz-Eichbom a. a. O. S. 337: »Die
Antike hat zur Entwicklung der Renaissancekunst des 15.
Jahrhunderts nicht das mindeste beigetragen.«
 
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