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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 11.1900

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Die Darstellung des Nackten und das Sittlichkeitsgefühl in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.5771#0154

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verbildet wäre, würde uns auch deren Fehlen nicht
als etwas besonderes auffallen. Niemand findet etwas
dabei, dass Gelehrte in jungen Jahren zu einer Ver-
sammlung von jungen Damen vor antiken Statuen
sprechen, und sowohl dem Redner als auch den Hörerin-
nen wird selbst vor Gestalten wie die medicäische j
und kapitolinische Aphrodite kaum das Gefühl kom-
men, dass hier etwas anstössiges berührt werde. Wie
gross muss der Keuschheitsgehalt der Antike sein,
dass sie selbst auf ein prüdes Zeitalter noch so wir-
ken kann!

Der christlich religiöse Eiferer wird sich vielleicht
auf eine Diskussion über die Antike gar nicht ein-
lassen wollen. Nun gut, wir können ihm auch aus
der christlichen Zeit mit Beispielen dienen, dass das
Nackte nicht anstössig gefunden wurde. Niemand
wird zu bestreiten vermögen, dass es eine Zeit, welche
inniger von religiösem Geiste durchdrungen gewesen
wäre als die altchristliche, nicht gegeben habe, und
doch gebrauchte die Epoche der Märtyrer für den
christlichen Glauben in der Plastik und Malerei die
unbekleidete menschliche Gestalt unbefangen da, wo
sie hingehört. Nackt werden dargestellt Jonas, wie
wie er vom Walfisch verschlungen und ausgespieen
wird und unter der Laube liegt, Daniel in der
Löwengrube, Amor und Psyche in ihrer christlichen
Umdeutung, alle ohne das geringste Feigenblatt, ferner
zahlreiche dekorative Figuren, namentlich Tritone und
Nereiden zur Hindeutung auf das Wasser als das
Element der Taufe. Nur Adam und Eva betlecken
entsprechend der alttestamentlichen Erzählung den
Schos, Christus am Kreuz wird nur ausnahmsweise
mit einem langen Chiton bekleidet dargestellt, sonst
ebenso wie die Schacher nur mit Lendenschurz, und
auch bei der Taufe durch Johannes erscheint er bis
auf einen schmalen Lendenschurz nackt.

Erst das eigentliche Mittelalter mit seiner Abkehr
von der Natur hat das unsinnige Dogma von der
Sündhaftigkeit des Nackten aufgebracht. Beides findet
in der Lehre Christi ebensowenig seine Berechtigung 1
wie die Gründung von Klöstern und die Ehelosig-
keit der Priesterschaft. Nicht einmal konsequent war
man darin, denn der Religionsstifter am Kreuz
und bei der Taufe wurde immer noch nackt bis !
auf den Lendenschurz dargestellt. Nicht die christ-
liche Religion hat die Abkehr von der Natur hervor-
gerufen, sondern diese war die Reaktion gegen das
in der zersetzten und untergehenden Spätantike wild
gewordene Natürliche, und diese hat umgekehrt die
Wendung in der Auffassung der christlichen Religion
bewirkt. Gewisse Grundsätze der Lehre Christi
schienen dieser Anschauung entgegen zu kommen,
und die Kirche ergriff die Abkehr von der Natur
begierig, weil sie dadurch eine um so sicherere Herr-
schaft über die Menschheit erlangen konnte.

Sobald mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts die
Menschheit voll zu der Natur zurückkehrte, tritt auch
die nackte menschliche Gestalt wieder in ihre Rechte.
Schon in den Malereien Masaccio's in der Brancacci-
kapelle zu Florenz erscheinen Adam und Eva nackt
zweimal, und auf dem ersten Werk der nordischen

Renaissance, dem Genter Altar der Gebrüder van
Eyck, stehen Adam und Eva in einer Reihe neben
Gottvater, Maria, Johannes und ihrem musizierenden
Engelchor, nicht etwa schüchtern, sondern in gleicher
Grösse wie jene und mit vollendetem Realismus dar-
gestellt, so dass man den Gestalten anmerkt, sie sind
genau nach dem nackten Modell genommen. Als
Memling sein berühmtes Danziger Jüngstes Gericht
malte, da liess er die Scharen der Seligen, Männlein
und Weiblein, in völliger Nacktheit ohne Feigenblätter
auferstehen und in das offene Himmelsthor einziehen.
Wenn man die für die Päpste gemalten nackten Gestalten
der italienischen Kunst im Zeitalter der Hoch-
renaissance als Beispiel anführen wollte, dann könnte
jemand darauf erwidern, dass damals selbst die päpst-
liche Kurie verweltlicht war, aber den niederländischen
Gemälden des 15. Jahrhunderts wird niemand Mangel
an kirchlicher Frömmigkeit vorwerfen können, und
doch nahm man an der Darstellung des Nackten im
Dienste der Religion keinen Anstoss.

Ja selbst heute ist niemand so pervers, in der
Nacktheit auf jenen Bildern ein Ärgernis zu finden,
und das kommt daher, dass das Nackte dort völlig
naiv aufgefasst ist, wie es in der Antike der Fall
war. Damit haben wir den springenden Punkt: das
Nackte an und für sich ist nicht unanständig oder
unsittlich, sondern es kommt darauf an, wie es auf-
gefasst wird. Ja, es können bekleidete Figuren selbst
in ganz harmlosen Handlungen unanständig wirken
und nackte nicht. Wenn wir die Decke in der Halle
der Villa Farnesina zu Rom von Raphael, welche
ganz mit nackten oder fast nackten Figuren bevölkert
ist, betrachten, werden wir nicht den leisesten sinn-
lichen Kitzel verspüren. Wir brauchen aber nur in
eine der zahllosen Kirchenkuppeln der Barockzeit
empor zu schauen, die den geöffneten Himmel dar-
stellen und wo wir den halb weiblich gebildeten
Engeln unter die flatternden Röcke sehen, um jene
Empfindung zu haben, welche in der Farnesinahalle
nicht aufkommt. Das Zeitalter der sog. Gegenrefor-
mation, in welchem nicht ohne Zusammenhang mit
jener der Barockstil entstand, hat die Prüderie in die
Welt gebracht, die etwas ganz anderes ist als jene
immerhin naive mittelalterliche Abkehr von der Natur.
Jenes bigotte Zeitalter hat aber auch das Lüsterne in
der Kunst entstehen sehen, welches die christliche
Welt bisher nicht kannte, und das der Antike nur in
ihrer ganz späten und verderbten Zeit eigen war. Es
giebt aus dem Mittelalter und der Renaissancezeit derb-
sinnliche Darstellungen, aber das eigentlich Lüsterne,
welches aus der künstlichen und heuchlerischen Unter-
drückung der natürlichen Sinnlichkeit entsteht, kommt
nicht vor. Die Lüsternheit brach im Barockzeitalter
selbst in Darstellungen rein kirchlicher Gegenstände
durch, wie die erwähnten Kuppelmalereien zeigen;
und zahlreiche gemalte oder gemeisselte religiöse Ver-
zückungen jener Zeit sind weiter nichts als die Dar-
) Stellung sinnlicher Erregung an hysterischen Frauen-
zimmern.

Somit wird bewiesen, dass das Sittliche oder Un-
sittliche in der Kunst nichts damit zu thun hat, ob
 
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