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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 11.1900

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Schmid, Heinrich Alfred: Über den Gebrauch des Wortes Renaissance
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https://doi.org/10.11588/diglit.5771#0243

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469

Über den Gebrauch des Wortes Renaissance.

470

Renaissance noch lange nicht beginnt, scheint mir
selbstverständlich.

Es hat nun jedes Wort seine verschiedenen Bedeu-
tungen und solche verschiedenen Bedeutungen können
überall zu den anfangs erwähnten Missständen führen.
So ist oft das schon misslich, dass mit italienischer
Renaissance« sowohl der Stil in Architektur und
Dekoration allein, als auch der Stil aller Künste ver-
standen wird und trotzdem wird sich das kaum ab-
ändern lassen. Dass aber heute ausserdem mit dem
Worte die ganze Periode, und damit auch die Kunst
des Nordens im 15. Jahrhundert verstanden wird, führt
zu solchen Übelständen, dass ich für den Vorschlag
von Dehio noch einige weitere Argumente anführen
möchte, obwohl ich sehr wohl weiss, dass das Zurück-
dämmen eines schon eingerissenen Sprachgebrauches
auch wieder zu Unbequemlichkeiten führt.

Das praktische Bedürfnis sollte nach meiner An-
sicht allein ausschlaggebend sein. Nun machte ich
bei meinen Spezialstudien über das Eindringen der
italienischen Richtung nach Deutschland während des
16. Jahrhunderts die Erfahrung, dass es oft kaum
mehr möglich ist, bei dem heutigen Sprachgebrauch
sich kurz und klar über die Verhältnisse auszusprechen.
Ich erinnere nur daran, dass »nordische Renaissance«,
-deutsche Renaissance« sogar, ebensowohl die Kunst,
die von den Niederländern ausging als auch die
Abart der italienischen Kunst im Norden bezeichnen
kann. Wenn ich z. B. in einem Buche den Satz finde:
> Holbein ist der glänzendste Vertreter der Renaissance
im Norden«. So kann dies heute bedeuten: Dass
Holbein der bedeutendste Künstler der gesamten Be-
wegung im Norden, dass er der bedeutendste Künstler
zu Dürer's Zeiten im Norden, oder auch bloss, dass
er die italienische Architektur und Dekoration am
glänzendsten zu verwerten wusste. Sinn hat der Satz nur,
wenn damit gemeint ist, dass Holbein der glänzendste
Vertreter der Stilphase war, die mit den jüngeren
Dürerschülern anbrach. Setzt man statt »Renaissance
im Norden« »nordische Renaissance« oder »deutsche
Renaissance«, so wird der Satz sicher auch falsch ver-
standen. Setzt man statt »Renaissance« »italienische
Renaissance«, so involviert dies die Vorstellung, als ob
Holbein den Dekorationsstil der Italiener nicht selb-
ständig verarbeitet hätte. Bei der Darlegung einzelner
Beobachtungen werden die Schwierigkeiten aber oft
noch grösser; man ist genötigt, die Sätze mit Umschrei-
bungen zu überladen. All das wird mit einem Schlage
anders, wenn man mit »Renaissance« schlechtweg den
Stil bezeichnet, der sich von Italien aus über die Welt
verbreitete.

Selten liegen die Verhältnisse so klar wie bei Dürer,
bei kaum einem Künstler lässt sich so deutlich ver-
folgen, was er von Italien empfangen hat und was
nicht. Dass man sich selbst über diesen Fall noch
nicht einigen konnte, mag zum grossen Teil daran
liegen, dass man eben bei dem Worte »Renaissance« nie
an das allein denkt, was der Norden vor dem ita-
lienischen Einfluss schon gekonnt und besessen hat.
Man kann eben ein vieldeutiges Wort oft nicht ein-

mal ungestraft denken. Ausserdem versteht dann in
der Diskussion der Leser wieder etwas anderes als
der Verfasser.

In den beiden angeführten Fällen ist hauptsächlich

; der Umstand nachteilig, dass die Kunst des Nordens
und die des Südens mit demselben Worte bezeichnet
werden, in anderen mehr der, dass mit dem Worte
auch die gesamte Kultur der Epoche verstanden wird.

Da die Stile der bildenden Kunst ihr eigenes Leben
haben und mit einer Weltanschauung oder Kultur-
epoche nicht so ohne weiteres verschwinden, ist es
unter allen Umständen vorteilhaft, für sie eigene Na-
men zu haben. Verwendet man aber das Wort Gotik
für die gesamte spätmittelalterliche Kunst und Kultur,

! so kann das nur da zu Missverständnissen führen,
wo von dem Fortleben des gotischen Baustils über
diese Periode hinaus die Rede ist. Dagegen wird
wenigstens an die ursprüngliche Bedeutung dieses Wor-
tes kein Mensch mehr denken, weil weder Stil noch
Periode mit den Goten ernstlich etwas zu thun haben.
Anders verhält es sich mit dem Worte Renaissance.
Hier wird auch der ursprüngliche Sinn nicht so leicht
vergessen werden, da im Süden antike Kunstelemente
thatsächlich eine Wiedergeburt erlebt haben. Allzu-
leicht wird sich deshalb mit dem Worte die Vor-
stellung einschleichen, als ob im Norden dasselbe der
Fall gewesen sei. Auf die ganze Periode und damit
auch auf die Kunst des Nordens im 15. Jahrhundert
angewendet, wird man unter dem Worte »Renaissance«
nur dann lediglich »eine Periode der Wiedergeburt
des natürlichen Menschen« verstehen, wenn man sich
darüber geeinigt hat, dass weder im Süden noch im
Norden die Antike auf die Kunst irgend einen Ein-
fluss gehabt hat.

Nun ist aber die Mitwirkung der Antike grösser
als auch Dehio anzunehmen scheint. Es hat auch
in Malerei und Plastik neben einer allgemeinen, heute
nicht mehr zu bemessenden, noch eine ganz bestimmte
Einwirkung seit dem Beginne des 15. Jahrhunderts
schon stattgefunden. Dehio's Ausführungen belehren
mich aufs neue, dass dies nicht beachtet worden ist.

Bekanntlich tritt in den Gestalten der Renaissance
an Stelle der gotischen Schwingung eine andere uns
heutigen natürlicher erscheinende Belebung des Kör-
pers durch eine Reihe Bewegungsgegensätze, die kom-
plizierter und feiner sind als die der Gotik, jene
Gegensätze, die man bei Michelangelo, wo sie stärker
als bei Donatello in die Augen fallen, mit Contrapost
bezeichnet. Bei der stehenden Figur werden jetzt jene

! Bewegungen betont, die der Körper unwillkürlich voll-

i zieht, um sein Schwergewicht zu verschieben, das
Gleichgewicht aber zu erhalten. Es handelt sich aber
nicht darum allein. Es werden vielmehr bei jeder
Stellung und jeder Aktion nunmehr eine Reihe un-
willkürlicher Kontrastbewegungen verwertet, die im
Leben um so vollständiger eintreten, je elastischer und
biegsamer ein Körper ist.

Nun dreht sich schliesslich aller Fortschritt in der
Darstellung des Menschen darum, den Schein des
Lebens zu erhöhen, die gotischen Figuren sind auch
wieder belebter als die romanischen, und der Schluss
 
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