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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 14.1903

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Wolf, August: Venetianischer Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.5810#0050

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Venetianischer Brief

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um den Zustand des Campanile von S. Stefano und der
anderen Baudenkmale gekümmert. Der Architekt Boni
ordnete sofort Untersuchungen an, welche noch fort-
dauern. Eine Menge dringendster Restaurationen wurde
beschlossen. Da nun durch diese energische Inangriff-
nahme alle Schäden gleichzeitig zu Tage kommen, konnte
es wohl den Eindruck machen, als ob nun mit dem
Markusturm plötzlich alle hiesigen Bauwerke ins Wanken
geraten seien. Da man sich von selten der verflossenen
Baubehörde nur um das Zunächstliegende kümmerte, so
gerieten eine ganze Anzahl kleinerer Kirchen und deren
Glockentürme in gefahrdrohende Vernachlässigung. Wir
würden ohne den Einsturz des Markusturmes wohl in
Bälde, irgend einem anderen Unglück gegenüber gestanden
haben. Das Verkennen der dargelegten Umstände liess
sogar im Auslände die Meinung aufkommen, dass unter-
irdische Senkungen durch ganz Venedig an allem Unglück
Schuld seien; ja man brachte sogar den Ausbruch des
Pelee damit in Verbindung. Man darf nicht vergessen,
welch hohes Alter die meisten hiesigen Baudenkmale in
ihren ersten Fundierungen haben, und welche Summen
erforderlich wären, alles und jedes im stände zu halten.
Beläuft sich doch die Zahl der der bisherigen Bezirksbau-
behörde zur Überwachung unterstellten Baudenkmäler auf
1111, den Dogenpalast, Markuskirche, Prokuratien und ehe-
malige Bibliothek nicht mit eingerechnet. Für die Instand-
haltung dieser kolossalen Masse des Wertvollsten standen
nur 13500 Lire und zwei Architekten zur Verfügung. Erst
beim Alarm wegen der Gefahr des Dogenpalastes 189g
wurde ein dritter Architekt beigegeben. Ob nun die
Regierung den Beutel weiter öffnen wird? Italien thut
ein Kunstministerium Not, so wie bisher kann es nicht
weiter gehen. Boni ist zu seinen Ausgrabungen zurück-
gekehrt. Was eine einheitliche Leitung bedeutet, hat
dieser junge Mann in den drei Monaten seiner hiesigen
Anwesenheit bewiesen, bei der nun beendeten Auf-
räumung des Trümmerfeldes auf dem Markusplatze und
allen seinen sonstigen Anordnungen. Alle vier Bronze-
statuen der Loggetta wurden gefunden, freilich in schreck-
lichem Zustande. Ausser der grossen Glocke, welche
unversehrt geborgen wurde, wurden nur Scherben der
anderen gefunden. Der dem Turme zunächst stehende
Flaggenhalter, der bis oben verschüttet war, ist vollkommen
erhalten und freigelegt worden. Dass er nicht gelitten
und seine Basis keine Senkungen zeigt, ist fast wunderbar.
Mit der grössten Schwierigkeit und Vorsicht wurde die
Ecke der so stark beschädigten Bibliothek freigelegt und
gesichert; die Ecke steht vollkommen lotrecht und auch
die neuen Prokuratien zeigen keine Senkungen. Dagegen
sind die alten Prokuratien in gefährlichem Zustande, doch
nicht erst seit dem Einstürze des Turmes. Unter allen
Gebäuden Venedigs ist dieser Bau derjenige, der am meisten
Verlegenheiten bereitet. Er müsste wieder Privatwohnung
werden. Das Gewicht des Archivs der Versicherungs-
Gesellschaft, sowie die Glas- und Marmorwaren Testolini's
werden ihn zu Grunde richten. Gegenwärtig restauriert
man in umfassender Art. Bezüglich der Beisteuer für
Wiederaufbau des Turmes und »der Loggetta« an derselben
Stelle und in derselben Form, ist mitzuteilen, dass die
hierzu bestimmte Summe sich bis heute auf L. 1 443 003
beläuft. Der König gab L. 100000. Bekanntlich hat sich
die Schenkung jenes Morosini in New-York von L. 500 000
als der thörichte Scherz eines geschmacklosen Spassvogels
erwiesen. Morosini gab L. 2500. Viele haben grössere
Summen mit dem Bemerken gezeichnet, dass sie bis zur
Vollendung des Turmes jedes Jahr am 14. Juli dieselbe
Zahlung wiederholen werden. In ähnlicher Weise, wenn
auch bescheiden, ist die Beisteuer der italienischen Künstler-

schaft gesichert. Mittlerweile hat man die Meinungs-
äusserungen der bedeutendsten Künstler aller Länder für
und gegen den Wiederaufbau des Turmes gehört. Wer
Venedig genau kennt und liebt, muss auf Seiten derer
sein, die das unvergleichlich schöne Städtebild, besonders
von der Wasserseite her, wiederhergestellt wissen möchten.
Doch sei die Meinung, welche sie will: Der Wiederauf-
bau ist beschlossene Sache. Es lässt sich nicht sagen,
wie sehr der Campanile der Piazza fehlt. Besonders von
der Seite des Uhrturmes her gesehen, ist eine hässliche
Lücke entstanden zwischen Bibliothek und neuen Proku-
ratien. Ich brauche jedoch nicht zu wiederholen, was aufs
glänzendste durch vortreffliche Federn schlagend bewiesen
wurde. Einige der hervorragendsten Architekten Münchens
haben ja den Venezianern vollkommen aus der Seele ge-
sprochen. Die Arbeiten auf der Unglücksstätte sind so
weit geführt, dass nur noch die etwa 9 Meter hohen letzten
Überreste der Turmbasis aufrecht stehend vorhanden sind.
Die ganze Schuttmasse wurde in drei Qualitäten gesondert:
der eigentliche Schutt wurde ins Meer versenkt, während
die grossen noch gebundenen Massen, die Blöcke des
Backsteingefüges nebst Säulenfragmenten in den Volks-
gärten zu einer malerisch sich auftürmenden Masse ver-
einigt werden sollen, und zur Erinnerung an das Bauwerk
dienen werden. Die noch verwendbaren Versatzstücke
wurden auf der Insel S. Giorgio Maggiore deponiert.
Alles, was der Loggetta angehörte, im Hofe und den Ma-
gazinen des Dogenpalastes. Alle römischen Ziegel, deren
viele mit bisher unbekannten Stempeln zum Vorschein
kamen, wurden sorgfältig aufbewahrt. Gegenwärtig er-
wartet man die Regierungskommission, welche die letzten
Überbleibsel des Turmes untersuchen soll, um die Ver-
antwortlichkeit festzustellen. Es wird dies unmöglich sein
den jammervollen Resten gegenüber, welche aus den drei
Stufen der ringsumlaufenden Basis bestehen und der un-
gefähr 8 Meter hohen inneren Rückwand der Loggetta
mit der Nische, in welcher die Terrakotta-Madonna San-
sovino's ihren Platz hatte, welche in ungefähr 1300 Stücke
zermalmt gefunden wurde. Ein am Etruskischen Museum in
Florenz angestellter Herr Zei ist hierher berufen und ver-
spricht die Madonnengruppe wieder aus den Trümmern zu-
sammenzusetzen. (Vor zwei Jahren ist es ihm geglückt, die
zertrümmerte Francois-Vase wieder herzustellen.) Von der
allergrössten Wichtigkeit ist, dass nun, nachdem der Turm-
überrest, ganz freigelegt, umschritten werden kann, sich
davon zu überzeugen, wie die Fundamente in keiner Weise
nachgegeben haben, denn die drei mächtigen Stufen der
Basis sind völlig erhalten und ringsum vollkommen hori-
zontal in ihrem festen Gefüge verblieben. Somit ist alles
Gerede über Senkungen des Untergrundes widerlegt. Die
übertriebenen Berichte hierüber in den auswärtigen Zeitungen
sind als geradezu lächerlich zurück zu weisen, können
Venedigs Wohlstand jedoch sehr schädigen. Bezüglich des
Einsturzes des Markusturmes wird man sich immer klarer
darüber, dass nicht Altersschwäche den Koloss zu Fall ge-
bracht hat, sondern Vernachlässigung, und die letzten groben
Sünden gegen seine Festigkeit. Wenn einst aus den ge-
waltigen Ziegelblöcken jenes Denkmal in den Giardini
Publici errichtet sein wird, werden alle diejenigen, welche
jetzt keine Gelegenheit hierzu hatten, sich durch den
Augenschein überzeugen können, dass das Mauergefüge
des Turmes noch lange den Zeiten getrotzt haben würde,
1 ohne jenen gefahrvollen 7 Meter langen Einschnitt an der
Basis, von welchem ich seinerzeit berichtete.

Es ist nötig nochmals auf den Glockenturm S. Stefano
zurückzukommen. Sein Schicksal nimmt noch immer alles
Interesse in Anspruch. Die von der Regierung eingesetzte
Kommission hatte seine sofortige Abtragung befohlen.
 
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