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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 14.1903

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Kesser, Hermann: Die Galerie Henneberg in Zürich, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5810#0137

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251

Die Galerie Hen

neberg in Zürich

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streitenden Konkurrenten, die geschäftig dahineilenden
Dienstmädchen, die lungernden Lazzaronis, die balgenden,
spielenden Kinder, das bummelnde Volk, der neugierige
Sohn John Bull's mit seiner Familie, die Behörden und
die Geistlichkeit. Dass trotz der vielen im einzelnen fest-
gehaltenen Momentbilder, der ungezählten Charakterköpfe
das Ganze aus einem Gusse ist und eine lärmende, viel
bewegte Scene aus dem Volksleben mit einer Lebenskraft
und mit dem höchsten künstlerischen Taktgefühl vor Augen
geführt'wird, das ist eine Leistung, wie sie nur ein Künstler
vom Schlage eines Menzel fertig bringt. Das Bild trägt
die Jahreszahl 1889 und gehört mit zu den letzten
Schöpfungen des Meisters. Zur Piazza d'Erbe sind in der
Galerie Henneberg allein siebenunddreissig Studien vor-
handen, von denen jede einzelne von dem feinen Be-
obachtungssinn Menzel's für Bewegung und lebensvolle
Charakteristik erzählt. Eine treffliche mit Deckfarben her-
gestellte Studie ist das Innere der ehemaligen Klosterkirche
Riddaghausen (Braunschweig); von besonderem Wert, weil
sie ein instruktives Beispiel für Menzel's Farbentechnik ist.

Über ein halbes Hundert von Kohle- und Bleistift-
zeichnungen vervollständigen die künstlerische Physio-
gnomie Menzel's. Man kann an der Hand dieses Materials
aufs genaueste verfolgen, wie Menzel schafft, wie er nimmer
müde wird, eine Bewegung in ihren einzelnen Stadien fest-
zuhalten, wie er solange ein und dasselbe Modell die gleiche
Ausdrucksbewegung wiederholen lässt, bis sie jener gleicht,
die er für ein Ganzes benötigt, so sehen wir ein hämmern-
des Händepaar mehrmals nebeneinander aufgezeichnet;
immer wieder weiss der Künstler der Natur einen neuen
Zug abzuschreiben; wir sehen Aktstudien zu einem
Faltenwurf, Studien für Gesten und Mimik. Zwischen dem
Schwarz des Bleistiftes und dem Ton des Papieres weiss
er noch die feinsten Nüancierungen aufzufinden, die feinsten
Abstufungen im Schwarzen und Grauen macht er sich
dienstbar; man darf ruhig sagen, dass in Menzel die Blei-
stifttechnik ihre höchste Vollendung erfahren hat.

Die Menzelsammlung — sie umfasst laut Katalog 115
»Arbeiten« des Künstlers — bildete den wertvollsten Be-
standteil der Galerie.

Mit dreizehn Gemälden war der Münchner Franz Len-
bach vertreten — mit Gutem und Mittelmässigem. Zu dem
Guten rechnen wir einen Bismarck, das letzte Bild des
eisernen Kanzlers, das Lenbach in Friedrichsruh nach dem
Leben gezeichnet hat. Es unterscheidet sich im wesent-
lichen nicht von den anderen Lenbach'schen Bismarck-
bildern, höchstens durch die Betonung, wahrscheinlich ge-
wollte Betonung des Greisenhaften. Die bekannten,
charakteristischen Züge sind sonst so virtuos wiedergegeben
wie immer, wie das ja von Lenbach, der den Kanzler
vielleicht einige dutzendmale nach dem Leben und einige
hundertmale auswendig gezeichnet und gemalt hat, nicht
anders zu erwarten ist. Bülow und Richard Wagner, zwei
feine Musikerköpfe, sind im Profil gezeichnet; nur das
Notwendigste hat Lenbach hier mit dem Pinsel festge-
halten, um trotz der einfachsten Mittel ein treffliches Kon-
terfei des nervösen Bülow und des selbstbewussten Wagner
zu geben. Eine Hühnerfamilie, in Gemeinschaft mit Hofer
gemalt, erinnert an die Zeit, wo Lenbach noch nicht im
geistreichen Porträt sich selbst gefunden hatte.

Die anderen Lenbachs können wir ruhig übergehen
und uns zu Franz Stuck wenden, der in der Henneberg-
galerie so ziemlich mit seinen besten Sachen, die er jemals
geschaffen hat, vertreten ist. Wir meinen damit seine
Kreuzigung Christi, die Vertreibung aus dem Paradies, den
scherzenden Centauren und die Pietä.

Ähnlich der Holbein'schen Pietä ist der Leichnam
Christi in der Pietä Stuck's starr ausgestreckt auf einer

Bahre, einem Marmorsockel. Maria steht vor der Leiche
des Sohnes in stummem, grässlichem Schmerz. Wir sehen
nichts als ihre schmerzverzerrten Hände, die sie vor das
Gesicht hält, denn alles hüllt der gerade herabfallende
Mantel ein. In einer einzigen starren Geste verkörpert
sich das grenzenlose Leid der Gottesmutter. Die künst-
lerische Wirkung dieser Schöpfung liegt zum Teil im
schroffen Gegensatz des Vertikalen und Horizontalen, der
einzig und allein durch die beiden Figuren hergestellt ist;
diesen Kontrast weiss der Künstler dadurch aufs höchste
zu steigern, dass er auch das geringste störende Beiwerk
beseitigt und über das Ganze einen fahlen, blaugrauen Ton
legt. Das monumentale Werk ist durch seine Reduktion
auf das rein Figürliche als plastisch gedacht zu betrachten.
Die Form ist stilisiert, alles ist Linie, alles zeigt plastische
Ruhe. In der »Kreuzigung paart sich dieser Klassizismus
mit starken dramatischen und koloristischen Accenten. Die
Gruppe oben verharrt in lautlosem Schauen, keine heftige
Bewegung stört die Feierlichkeit des Augenblicks; in ohn-
mächtigem Schmerz ist Maria dem einen der Jünger in die
Arme gesunken; doch auch das kann die Jünger, die ge-
kommen sind, um auf das letzte Wort des niensch-
gewordenen Gottessohnes zu hören, nicht aus der Fassung
bringen. Der schwarze Mantel der Figur links im Vorder-
grunde, das lebhafte Rot einer anderen Gewandung und
die ganze Farbenharmonie geben, verbunden mit dem
linearen Element, dem Gemälde einen stark dekorativen,
symbolisierenden Ausdruck. Die unten tobende Menge,
die nur durch eine grosse Anzahl wutverzerrter, bis zum
Karikaturistischen gesteigerter Köpfe versinnbildlicht wird,
bildet einen wirksamen Kontrast mit dem erdrückenden
Stillschweigen, das die Katastrophe, mit der der Erlöser
sein Werk abschliesst, lautlos begleitet. Die Apostel, die
dem Meister gefolgt sind, sie klagen nicht, sie wissen, dass
er nicht umsonst gelebt hat. Auch in dieser Schöpfung
zeigt sich der Künstler in souveräner Beherrschung seines
kraftvollen, von dekadentem Anstrich befreiten Talentes.
Hellenische Lebensfreude predigt sein »Wein« und »Der
Centaur mit Nymphe«. Die komische überredende Geste
des drolligen Gesellen, der breite grinsende Zug im An-
gesicht und die scheue Nymphe, sie zeigen Stuck's Freude
am Neugestalten antiker Vorbilder und die Lebensbejahung
seiner Künstler-Philosophie. Prächtigen dekorativen Wurf
verrät ein Hochformat »Wein«, offenbar ein Werk des
älteren Stuck. Die weibliche Aktfigur, die da auf einem
Baumast Platz genommen hat, ist von so plastischer Klarheit,
der weibliche Körper ist so formvoll und doch nicht weich-
lich wiedergegeben, dass er aus dem Rahmen zu treten
scheint.

Mit stark theatralischen Mitteln arbeitet der Künstler
in seiner pathetischen Vertreibung aus dem Paradies, frei-
lich mehr denn eine simple Bibelillustration, eher eine
imposante Tragödie, deren Personen das erste Menschen-
paar sind. Neu ist hier der Gedanke, die Natur, von dem
Zorn des strafenden Schöpfers erfüllt, an dem Vorgang
teilnehmen zu lassen. Der Himmel ist verfinstert, ein
furchtbarer Orkan beugt die starken Baumriesen, die sich
am Hintergrunde abzeichnen. Nur ein einziger glänzender
Strahl fällt aus dem ewig verschlossenem Thor und be-
leuchtet die Menschenkinder, deren Glück für immer ver-
nichtet ist. Mitleidslos treibt sie der Wächter des Para-
dieses von dannen. Das mächtige Schwert, das er in
Händen hält, wird jedem Eindringling den Eintritt ver-
wehren. Wir haben auch bei diesem Bilde die Zweiteilung
von Handlung und Scenerie: im Vordergrunde auf einer
Art Podium die agierenden Personen, nach hinten gerückt
in der Tiefe die Landschaft. Die räumliche Glaubwürdig-
keit der Darstellung ist allerdings auf diese Art herab-
 
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