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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 14.1903

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Münchner Brief, [1]
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283

Münchner Brief

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Wie das Ächzen eines unter furchtbarem Alpdruck
sich wälzenden tönt es uns aus den Werken des noch
sehr jungen Österreichers Alfred Kubin entgegen, an
dessen getuschten Federzeichnungen hier vor kurzem ein
feinsinniger Kunstsammler mit starkem Erfolg zum Ver-
leger wurde1). Seelisch ist die Grundlage jenes Er-
schrecken vor dem Leben, eine Erfahrung, die jedem
feiner Geformten zwischen seinem 12. und 25. Lebensjahre
eigen wird und die ihren letzten Grund darin hat, dass
wir noch immer missverständlich die logischen Gesetze
unserer Sprachbiidung als anspruchsvolle Begriffsforde-
rungen an die thatsächlich weder gute noch schlechte,
sondern einfach bildmässig vorhandene Umwelt anlegen.
Plastisch geht die Erbfolge phantastischer Grausensbil-
dungen von Hieronymus Bosch über den ältesten Brueghel,
dessen Neapler dem feuchten Tod entgegenirrende Blinden
sicherlich Kubin's warme Bewunderung wecken würden,
Goya, Rops und die gedankenbesch werteren Blätter Klinger's.
Diesen drei wurde mit Bewusstsein Einwirkung verdankt,
vor allem Goya, dessen voller Nassätzungston für die
Licht- und Schattenteilung der Blätter massgebend wurde.
Da ist es natürlich zu rügen, dass man in Zeichnungen,
die nur durch photographische Nachbildung vervielfältigt
werden, die Wirkung von Radierungen nachzubilden sucht;
das nächste, was dem Künstler, der ja jetzt durch ver-
schiedenes Ausstellen und durch die Mappe einen Namen
und damit freie Arme bekommen hat, obliegt, ist die Er-
lernung graphischer Techniken.

Betrachten wirdie einzelnen Blätter, so sehen wir zunächst
auf einer von Felswänden umschlossenen Bühne eine nackte
magere aber junge Frauengestalt, die verhüllten Hauptes mit
einer Harke die wimmelnde Ameisenschar der Menschen,
wie der Croupier in Monte-Carlo das Gold, einstreicht:
»Des Menschen Schicksal«. In der »Stunde der Geburt«
legt an einer Mauer ein Wesen, das noch zu schwanken
scheint, ob es sich für die Karriere eines Hummers oder
für die einer Kreuzspinne entscheiden soll und das ausser-
dem an einer Art Pferdefuss laboriert, ein neues Menschen-
kind, wie der Fisch seinen Laich, ins Wasser. »Der Angst-
schrei« zeigt uns einen — wirklich ohne genügende Vor-
studien gezeichneten — Tiger pfeilgetroffen, dem auf Ästen
zwei condorartige Vögel zusehen: der eine mit stumpfem
Glotzen, der andere mit der wissenden Miene eines
häufigen Börsenbesuchers. »Das Pendel« nennt Kubin
eines seiner eindrucksvollsten Stücke: ein schlangenartiges
Ungetüm liegt zusammengeballt über einem Felsenthor
(der Übergang vom Stein in das ungewisse Dunkel der
Tiefe ist gut herausgebracht!), wo ein Mensch an dem
lang herabhängenden Schwänze des Tieres mit beiden
Händen ängstig sich festhält. Man fühlt, wie an der
glatten trockenen Schlangenhaut die Hände langsam hin-
untergleiten. Hier ist ein quälender Traum unmittelbar
aufs Papier gebracht. Auf der Erde bleiben wir mit dem
Schwächling«: ein junger bartloser Mensch in einem weiten
pelzbesetzten Glockenrock, die dünnen Knöchel in feine
Damenschuhe, die Hände in weite Manteltaschen gesteckt,
geht sorgfältig vor sich hinblickend in einem sauberen
Rundwege um Hügelland. Mit einnehmender Herbheit
hat der Künstler dem Jüngling etwas von den eigenen
Zügen gegeben. Wenig erfreulich ist »Macht«: eine Art
Robbe mit strahlend starrendem Schnurrbart, die über einem
Haufen von verschiedenartigen, aber nicht sehr gut ge-
zeichneten Skeletten thront; von starkem gespenstischen Ein-
druck aber »Epidemie«: in weiter schneebedeckter Land-

1) Faksimiledrücke nach Kunstblättern von Alfred
Kubin. Herausgegeben und verlegt von Hans von Weber,
München 1903. Preis der Mappe (15 Blatt) 20 Mark.

schaff giesst das riesengross stapfende Skelett aus einem
Sacke die giftige Saat über das Dach eines einsamen Ge-
höftes. Vortrefflich ist durch die Kleinheit, in der der
rechts emporstarrende winterliche Wald gegen die säulen-
haften Knochen des Ungeheuers erscheint, das Unermess-
liche der feindlichen Gewalt zum Bewusstsein gebracht.
Das schwächste der Blätter ist »Hungersnot«: ein verhüllter
Reiter, der einen Menschenkopf auf der eingelegten Lanze
aufgespiesst hat und auf einem hinterrücks plötzlich zum
Skelett werdenden Pferde dahersaust: man denke hier ein-
mal an Dürer's Kohlezeichnung »König Tod« oder an
Böcklin! Laut und stark wirkt dagegen »der Krieg«. Ein
nackter Mann, den Kopf von einem mächtigen, nur die
Augen sichtbar lassenden antiken Helm verdeckt, den linken

i Arm im gewaltigen fast viereckigen Schilde, holt er mit
der Rechten, die eine etwas billig aus einer Hantel und
einem Wiegemesser zusammengesetzte Waffe hält, zum
Schlage ausundhebtzugleichden unmässigangeschwollenen,
unförmigen Fuss, um ein Heer, das mit fliegenden Fahnen
ihm entgegenzieht, niederzustampfen. Es ist, als würden
haushohe Schallbecken von ehernen Fäusten angeschlagen!
»Nach der Schlacht« sehen wir eine Schar dunkler Vögel
vom Seesufer sich erheben, um auf einer hellen Hügel-
kette sich niederzulassen, — erst bei näherem Zusehen er-
kennen wir unter den Formen der Hügelreihe Kopf, Arm
und Brustkorb eines ungeheuren liegenden Menschen —

1 also ein Bilderrätsel, das doch etwas arg an die Spielecke
der Familienblätter gemahnt. Eine gewaltige auf freiem
Felde ausgestreckte Mannesleiche begegnet uns auch in
der folgenden Scene »Wissenschaft«. Ein Affe, nachdenk-

' lieh die Kralle vor die kurze Stirn führend, ein dickes Buch
unter dem anderen Arm, kriecht auf dem Toten herum.
Das fahle Licht, das unter schwerem Dunkel her vom
Horizonte auf die Brust des Liegenden fällt, wirkt künst-
lerisch erfreulicher als der etwas alltägliche Gedanke, der
bereits in der Schülerscene des Faust zur Genüge ausge-
sprochen ist. Von eigenster Stimmung ist das Grausen«.
Ein Schifflein, dessen Mast zerbrach, trägt zwei dicht in
ihre Mäntel gehüllte Menschen dem begrabenden Wellen-
berge entgegen. Da — mitten aus der Welle wächst wie
ein Pilz ein riesengrosser, fast entfleischter Menschenkopf
empor. Die knöchernen Kiefer verschieben sich wie im
Sprechen, das rechte Auge blickt matt und wehmütig, das
linke Auge aber ist in auftreibender Krankheit zu fürchter-
licher Kugelgestalt angeschwollen und leuchtet in düsterstem
Glanz! Ist hier bei allem Grässlichen doch nur etwas

: zweifellos tief Erlebtes Bild geworden, so habe ich aller-
dings für das folgende Blatt »Die Todesstunde« kein
freundlicheres Wort als das von einem meiner Bekannten
gebrauchte Panoptikumseffekt«. An einem Turme sind
unter den Ziffern einer Uhr Menschenköpfe angebracht:
Bürgersmann, Bankier, Gelehrter, Dirne, Zänkerin. Der
Zeiger ist ein türkischer Säbel. Mit dem Schlage der

; Stunde schneidet die Waffe jedesmal einen der Köpfe ab.
Der fällt dann in ein unten bereitgehältenes Netz. Wenig
Neues sagt uns »Der beste Arzt«. Eine hagere Frau mit
halbnacktem Oberkörper, halbkahlem Schädel, merkwürdiger-

i weise mit einem um den Hals gehängten Medaillon am
Bande, drückt einem in weit mehr als seiner ganzen Länge
ausgestreckten Mädchen, das ergeben die Hände anein-
anderlegt, die Augen zu. Mit vielem versöhnt das Schluss-
stück der Folge: »Versunken, Vergessen«. In dunkelster
Nacht sitzt ein gewaltiges steinernes Wesen, gleich einer
Memnonssäule die Hände auf die Knie legend, auf
niedrigem Steinblock. Graniten eckig sind Arme und
Beine, in harter runder Linie gewölbt die Brust. Auf
kropfigem Halse erhebt sich ein Vogelkopf mit kühnem
mächtigen Schnabel und kleinem, kaum sichtbaren Auge.
 
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