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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 16.1905

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Gross, Karl: Die Wahrhaftigkeit im kunstgewerblichen Unterricht
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https://doi.org/10.11588/diglit.4872#0179

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172

DIE WAHRHAFTIGKEIT IM KUNSTGEWERBLICHEN UNTERRICHT

All diese Schulen glei-
chen damit einem mächti-
gen verteilten Wagenpark,
dessen Räder alle in eif-
riger Bewegung sind, sich
aber alle nur um die eigene
Achse drehen, ohne einem
gemeinsamen Ziel zuzu-
streben. Dieses Ziel war
bisher leider durch den
Ornamentendunst verhüllt.
Heute erscheint dieses Ziel
aber bereits deutlich am
Horizont.

Es ist die Harmonie
der Raumkunst, der Archi-
tektur, der im praktischen
Leben fast alle gewerb-
lichen und kunstgewerb-
1 ichen Fächer zu dienen ha-
ben. Hier ist nichts Selbst-
zweck, alles hat sich dem
Ganzen unterzuordnen,
Einzelheiten dem Raum,
der Raum den Zwecken
des Hauses, das Haus der
Landschaft oder Straße, die
Straße dem Stadtbild.

In dieser Unterordnung finden wir endlich wieder
das Geheimnis der so selbstverständlichen unaufdring-
lichen Schönheit vergangener Kultur, die wir bisher
nur durch ornamentale Reizmittel zu einem öden
Scheinleben zu zwingen suchten.

Da die Unterordnung des Teils ins Ganze ein
Weltgesetz ist, brauchen wir auch nicht zu fürchten,
damit nur einen neuen, vergänglichen Lehrsatz auf-
gestellt zu haben.

Gewiß nicht, denn, meine Herren, wir rufen da-
mit nur wieder das jedem Menschen, auch
den Wilden angeborene, natürliche Geschmacks-
gefühl auf den Plan, das wir bisher durch die
fortgesetzte Einimpfung des Ornamentbazillus
systematisch ertötet haben.

Daher muß die Schonung und Stärkung des
natürlichen Fühlens für die Folge der erste
Grundsatz unserer Schulen sein, wenn wir bil-
den und nicht verbilden wollen. Dies halte
ich zunächst für die vordringlichste Forderung.

Wie viele haben erst spät oder
leider auch nie mehr ihr eigenes
Fühlen wiedergefunden, jenes Füh-
len, das erst Sicherheit, Freude
und Wertschätzung ins Schaffen
bringt, das den Handwerker stolz
auf seinen Arbeitsrock, auf sein
Schurzfell macht und demselben
wieder die Jugend unseres Bürger-
tums zuführen könnte.

Meine Herren, das alles ist
nicht nur ein schönes Phantasie-
gemälde, sondern unsere ganze

BRONZEPLAKETTE VON PROFESSOR F. WOLBER,
PFORZHEIM

moderne Bewegung zielt
bereits darauf hin.

Ich habe behauptet,
daß bei der jetzigen Ent-
wickelung der Raumkunst
unser angeborenes natür-
liches Geschmacksgefühl
sich wieder wird betätigen
können. Diese Raumkunst
wird sich zunächst einem
einfach-soliden, bürger-
lichenCharakter zuwenden.
Aller überflüssige Oma-
mentenkram wird weg-
fallen. In handwerklicher
Tüchtigkeit und zweck-
dienlicher, gesunder An-
wendung der Technik wird
der Handwerker wieder
»sich selbst finden ler-
nen«. Dahin strebt die
Entwickelung und darum
möchte ich behaupten:

Die besten kunstge-
werblichen Schulen sind
jene, welche sich mit der
Zeit selbst überflüssig zu
machen verstehen, das
heißt welche an ihrem Teil zielbewußt mitarbeiten,
das Kunstgewerbe wieder derart in den »Sattel zu
setzen, daß es selber reiten kann,« wie ehedem.

Der Lehrgang aller Schulen, welche mit der Archi-
tektur zu rechnen haben, wäre daher folgender:

Fachklassen für Raumkunst haben Gesamtaufgaben
zu stellen, welche zur Detailbearbeitung an die übri-
gen Fachklassen weitergegeben werden, nicht nur an
jene einer Schule, sondern auch an die selbständigen
Fach- und Gewerbeschulen.

TINTENZEUG, BRONZE
AUF MARMORSOCKEL

VON PROFESSOR AD.

SCHMID, PFORZHEIM
 
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