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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,4.1911

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Heft 20 (2. Juliheft 1911)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9019#0115
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Und wirklich setzte sich der gute Iustizrat in Trab, sie zu haschen, denn
er schärnte sich, seine Schwäche einzugestehen. Dabei kreiselten wieder die
schwarzen Ringe vor seinen Augen, und der Atem kam ihm mühsam aus
tiefer Brust. Auch gelang es ihm rricht, die Leichtfüßige einzuholen.

Sie machte endlich halt und blickte auf ihn zurück. „Nein, wie du
aussiehst! Wie ein zerzauster alter Bär!" Das klang brutal.

Der Iustizrat ließ es sich nicht merken, aber ihr rasches Wort verletzte
ihn tief. Es traf ihn da, wo er am verwundbarsten war: in der Aber-
zeugung seiner Manneswürde.

Man kam zn Haus an, man nahm die Mahlzeit wieder auf der
Veranda ein. Aber der Iustizrat war kaum imstande, einen Bissen zu
Munde zu sühren, und auch Frau Doris klagte über einen leichten Kopf-
schmerz. Einsilbig schlich das Gespräch und nicht viel anders, als begehe
man ein Totenmahl. Und wirklich war da irgend etwas begraben worden.

Man zog sich nach Tisch in eins der Zimmer zurück, um zu ruhen.
Eher als im Freien war da Kühlung zu finden. Aber Frau Doris rief
den Schlaf vergebens. Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder und
sah den Gefährten mit weit geöffnetem Mund auf dem Rücken liegen,
nnd sein Atem ging schwer. Etwas wie ein Schauder überlief sie bei
diesem Aublick. „Wie ein zerzauster alter Bär." Sie mochte ihn nicht
stören und hatte sich, so peinigend es war, bei aller Nervosität regungs-
los zu halten. Dieser tückische Schmerz über der linken Schläfe wurde
zu regelrechter Migräne. Wahrscheinlich hatte auch sie ihre Kräfte über-
anstrengt.

Als er endlich aufgewacht war, sagte sie: „Mir ist ganz elend. Ich
bitte dich, laß uns so schnell wie möglich abreisen."

„Schon? Aber wenn du willst, natürlich." Daß seine Wünsche in
diesem Fall mit den ihrigen übereinstimmten —, das auszusprechen, lag
keine Veranlassung vor.

Wieder das Rollen der Räder auf eisernen Schienen. Wieder hatten
sie beide ein Abteil für sich.

Er lag in seiner Ecke zurückgelehnt, sie saß ihm gegenüber. Aber er
sah sie nicht. Die andre sah er. Nie, seit ihrem Tode, hatte er Maria
so schmerzlich vermißt, niemals so tief empfunden, was sie ihm gewesen
war. Das war nichts andrcs als das Heimweh, das den Sohn der Berge
inmitten lärmender und geputzter und genußsüchtiger Städter befällt.
Er biß die Iähne aufeinander.

Im Rollen der Räder war, nun leise tönend, nun aufjammernd, das
Klagelied begrabenen Glücks.

Es war Abend geworden. Ihm war, als strecke sich ihin von draußen
eine weißc Hand entgegen. Als könne er danach greifen und sie doch nicht
fassen. And diese weiße Hand hatte ihm stets nur wohl getan. Diese
Hand hattc stillgehalten zu allem, was er an ihr gesündigt hatte.

Eine Erkenntnis drängte sich ihm auf, und er formulierte den Ge-
danken mühsam, bis er ihn zu scharf poiutiertem Satz gefaßt hatte:
Mochte es wahr sein, wie sie sagten, daß der Mann polygam veranlagt
war; jedenfalls blieb er monophil.

Man liebt nur einmal — nur in der Iugend — nur im Unverstand!

Die Räder rollten, und die Schienen klangen. Der Zug fuhr in die
Finsternis hinein.

2. Inliheft Ml 85
 
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