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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,4.1911

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1911)
DOI Artikel:
Bleuler-Waser, Hedwig: Jungmädchenart, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9019#0325
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Zungmädchenart

(Schluß)

3. Das Seelenantlitz

Novalis' Beobachtungen, die überall den tief ins Unbewußte
hinabtauchenden Romantikersinn verraten, findet sich einmal eine
^ZAußerng des Verwunderns darüber, daß des Dichters erst vier-
' zehnjährige Braut zwei Eigenschaften verbinde, die sich sonst ausschlös-
sen, nämlich: „Dezenz (das heißt bewußte Schamhaftigkeit) und daneben
doch unschuldige Treuherzigkeit." Ein andermal erwähnt er ihre
„Offenheit" — wenige Zeilen weiter unten heißt es: „Ungeheure
Verstellungsgabe, Verbergungsgabeder Weiber über-
haupt!" — Schiller dagegen liebte bekanntlich, im Gegensatz zu dem
„ewig aus der Wahrheit Schranken schweifenden" Manne das Weib
als unschuldig unbewußte „treue Tochter der frommen Natur" hin-
zustellen. Beides ist in gewissem Sinne richtig: die weibliche
Natur kann in der Tat diese Gegensätze vereinigen — was niemals
so auffallend ist, wie im Entwicklungsalter, da Nnschuld und Raffine-
ment, Naivität und Koketterie, Treuherzigkeit und Bosheit, hilfloses
Blindsein und intrigante Durchtriebenheit Hand in Hand gehen. Kein
Wunder, daß unter unsern modernen Dichterpsychologen einige sich
mit besonderer Vorliebe in die Rätsel dieses „Zwischenlandes" ver-
tiefen — man denke nur an Gerhart Hauptmann. Äbrigens bot
schon Gottsried Keller in der Iugendgeschichte seiner Lucie im „Sinn-
gedicht" ein Meisterwerk nach dieser Richtung, das kein Mädchen-
erzieher unstudiert lassen sollte. Der Seherblick des Dichters mag
allenfalls in das geheimnisvolle Helldunkel eines Backfischgemütes
hinabtauchen. Von den gewöhnlichen Lenten wird sich einigermaßen
darin zurechtfinden nur, wer mit den Vorstellungen „bewußt", „un-
bewußt" und dem, was drum und dran hängt, einen klareren Be-
griff, als den landläufigen, verbindet. Man denke sich die mensch-
liche Seele zum Beispiel als ein Schloß, von dem nur das oberste
Turmgemach hell ist. Dort wohnt Wächter Bewußtsein, nur scheinbar
allwissend und allmächtig, in Wirklichkeit aber in allem, was er tut,
bestimmt durch Weisungen aus den untern, dunkeln Stockwerken.
Geradeso wie unsere bewußten Entschließungen nichts andres darstellen
als die Ergebnisse von Gefühlen, Erinnerungen, Wahrnehmungen,
die zum großen Teil im Dunkel bleiben. Bei reifen Menschen nun,
dem männlichen Geschlecht insbesondere, ist das Beleuchtungsverhält-
nis ein relativ gleichmäßiges, wenn auch bei jedem Augenblicke kom-
men, wo des Turmwächters Laterne tiefer als gewöhnlich hinableuchtet.
— In so einem Iungmädchenseelchen aber fackelt das Licht von oben
bis unten wie ein Scheinwerfer, läßt bald diese, bald jene Partie
blitzartig aufleuchten; auf einmal scheint alles ins Helle hervortreten
zu wollen, dann versinkt es wieder in undurchdringliche Finsternis.
Nie bekommt man einen verläßlichen Äberblick des Ganzen. — Da
kann man zum Beispiel fragen: Was weiß so ein Mädelchen? Der
Lehrer, wenn er ein Psycholog ist, wird kaum je darüber ganz klar
sein, sondern am Ende sogar zugeben, daß er von den wenigsten

(. Septemberheft Wl 25st
 
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