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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,4.1911

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1911)
DOI Artikel:
Ernst, Paul: Die Unterhaltungsliteratur und das Volk
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https://doi.org/10.11588/diglit.9019#0171
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Die Llnterhaltungsliteratur und das Volk*

>^»-eit längerer Zeit schon kämpft man gegen die „Schundliteratur".
l^^Ich möchte sie beileibe nicht in Schutz nehmen. Aber mir scheint,
^^als ob ihre Gegner einen andern Feind geistiger Entwicklung
viel zu wenig in seiner Gefährlichkeit erkennen.

Die arbeitenden Schichten des Volks lasen früher die Bibel und
vielleicht das eine oder andre Volksbuch. Bereits die Reformation
hatte die Bibel ins Volk gebracht, die Bibelgesellschaften haben das
Werk dann sehr unterstützt. Im katholischen Teil des Volkes hatten
Heiligenlegenden noch eine große Bedeutung. Das Lesen wurde zu-
letzt doch von der Kirche geleitet, denn diese Schriften wurden so ver-
standen, wie die Kirche sie auslegte. So bedeutete die Hauptlektüre
des Volkes eine strenge Erziehung zu Sittlichkeit und Religion, und
es war sür jede Fassungskraft gesorgt, denn die Bibel und die
andern frommen Schriften sind für den Einfältigen verständlich und
geben dem Klugen schwere Aufgaben. Die Volksbücher sind zum
großen Teil aus bedeutenden alten Dichtungen entstanden und sind
in den meisten Fällen nicht die schlechtesten Fassungen der alten
poetischen Stoffe. Ein geringerer Teil enthielt eine derbe Komik,
die ja dichterisch nicht besonders wertvoll war, aber nicht gemein und
eigentlich auch nicht albern ist; ein Buch wie der Eulenspiegel ent-
hielt den behaglichen Witz nicht sehr zartbesaiteter Menschen; aber
wem diese Streiche Spaß machen, den kann man ihm wohl gönnen.
Alles in allem: damals las das Volk das tzöchste und Edelste, was
es an Dichtung hatte; es las nicht flüchtig heute ein Buch und morgen
ein anderes, sondern es lebte mit dem Gelesenen. Die Psalmen und
die schöne Magelone, Genoveva und die Lvangelien, die Propheten
und die Geschichten der Heiligen, das war die Lektüre, an der sich
unser Volk Gemüt und Verstand gebildet hat. Und auch — das
soll man in dieser Zeit der gemeinsten und niederträchtigsten Sprach^-
verschlechterung besonders hervorheben — seine Sprache hat es an
diesen Büchern gebildet. Vor einigen Iahren schrieb ein Arbeiter
seine Lebenserinnerungen nieder, der wie durch ein Wunder vor
der Zeitungslektüre und dem Lesen dummer Romane bewahrt ge-
blieben war. Das Buch ist sprachlich eins der besten Werke, die
unsre Zeit hervorgebracht hat. Der arme Mensch hatte ja wenig
Seelisches und gar nichts Geistiges zu geben, und er stellt nur den
dürftigsten und engsten Kreis dar: aber wie er darstellt und wie er
dabei die Sprache behandelt, das ist heute fast unerhört. In der
Sprache ist unendlich viel enthalten; die heutige Sprachverrohung ist
zugleich Zeichen und mithelfende Ursache eines allgemeinen geistigen
und sittlichen Niedergangs.

* Die Meinungen, die im folgenden entwickelt sind, werden kaum un-
widersprochen bleiben. Sollen wir erst betonen, daß sie auch nach unserer
Ansicht in dem, was sie aus sichern Voranssetzungen folgern, anfechtbar
sind? Aus scheint, wenn einer wie Panl Ernst in dieser Sache sprechen
will, so hat er den Anspruch darauf, daß man seine Gedanken ohns
jede Störung durch Dazwischenreden zunächst einmal nachdenke. K.-L.

tz Augustheft Wi f29
 
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