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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,4.1911

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Heft 20 (2. Juliheft 1911)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9019#0116
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Mlgemeineres

Frau Doris hatte die lange geschlosseneu Augen weit geöffnet. Sie
blickte über ihn hinweg auf einen Punkt an der Wand, als stünde da eine
Schrift, die zu entziffern lohnte. Sie sagte plötzlich, und es klang heraus-
fordernd: „Wann machen wir Hochzeit?"

„So bald als möglich. Zum Abenteurertum der Liebe sind wir beide
doch nicht geschaffen."

„Ich wußte immer, daß du einer der alleranständigsten Menschen bist."
Das kam aus anderer Stimmlage, und sie reichte ihm ihre Hand hin.

Lichter und Lärmen und Berlin und Stettiner Bahnhof!

Rundschau

Zurn Spruch gegen ZaLho

<^n welchem Zusammenhange nns
Oder Fall Iatho mit den Auf-
gaben der Ausdruckskultur zu
stehen scheint (den einzigen, die den
Kunstwart hier angehn), davon ist
im ersten Aprilheft die Rede ge-
wesen. Geben wir heute statt wei-
terer Betrachtungen mit Iathos
eigenen Worten ein Bild davon,
wie ihm die weite Kirche erscheint,
nach der er strebt. In seinem „An-
dachtsbüchlein" „Fröhlicher Glaube"
schreibt er über das Bibelwort
„Mache den Raum deines Zeltes
weit" vom „Menschheitszelt":

„Das ist ein Wort für den
Mund des lebendigen Christus.
So würde Iesus ausrufen, wenn
er heute durch die Lhristenheit
wanderte und sähe, wie man sich
eingeschlossen hat in enge und
engste Räume. Wohl lobe ich mir
das kleine traute Gemach für einen
kleinen Kreis nächster Verwandt-
schaft; wer aber die Welt erobern
und die Menschheit gewinnen will,
der muß den Raum seines Zeltes
weit machen, die Zeltdecken in die
Breite spannen und die Zeltstricke
in die Länge recken.

Die Kirchen gestatten wohl, daß
die alte Wahrheit in neuer Form
verkündigt werde, aber neue reli-
giöse Wahrheiten dulden sie nicht.
Sie leugnen zwar nicht, daß auch
heute noch Gott sich offenbare,

aber daß die Offenbarungen der
Gegenwart über die der Vergan-
genheit hinausgehen, daß sie einen
Fortschritt darstellen, das geben
sie nicht zu. Sie räumen ein, daß
die Kenntnis der Menschen von
Gott und Welt sich vertieft und
erweitert hat, aber daß Gott und
Welt selber wachsen, mit dem
Menschengeist und seinen Kräften
Schritt halten, das gilt als Irr-
lehre.

Im ganzen und großen ist das
Zelt noch ebenso gestaltet, wie in
den Lagen der ersten Kirchenväter.
Ringsumher hat sich das Denken
und Leben der Menschen gewan-
delt, aus Wintern sind Lenze auf-
erstanden, die Lenze haben blü-
hende Sommertage und fruchtreiche
Herbste gebracht, im Erntejubel
haben die Schnitter und Winzer
all die hohcn Geistes- und Schön-
heitsgaben in die Scheunen ge-
sammelt — das Kirchenzelt aber
blieb Kirchenzelt, sein Raum wei-
tete sich nicht.

Die Wissenschaft nickte immer
wieder in die Fenster hinein und
lugte nach einem Plätzchen im Zelt,
aber niemand schob die Gitter der
Glaubenssätze und Bekenntnisse
beiseite, und so mußte sie ab°
ziehen, verdrossen und verärgert.
Die holde Kunst, die lebenumspan-
nende, alles verstehende und ver-
klärende, ließ nicht ab, die Vor-

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Kunstwart XXIV, 20
 
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