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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,4.1911

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Heft 20 (2. Juliheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9019#0117
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hänge der Pforte zn lüften, aber
nur die Muse wurde eingelassen,
die das geistliche Gewand sich an-
legt. Mit Bransen nnd Sausen
rüttelten die Stürme des Geistes
an den Pfosten, und zuweilen
schien es, als sollten sie wirklich
die flatternde Leinwand zerreißen,
aber stets hat man es drinnen
verstanden, die Risse mit den bun-
ten Lappen der Zeremonie zu flik-
ken und das Zelttuch mit den Nä-
geln des Buchstabens wieder zu
packen.

Man fand eine neue Formel
und glaubte, damit dem Verlangen
nach neuen Ideen entsprochen zu
haben. Man erließ neue Satzun-
gen und beruhigte dadurch die
ängstlichen Gemüter. Man ver-
anstaltete gelegentlich feierliche Um-
züge, aber es blieben eben Amzüge
nm das alte Zelt herum, zu Aus-
zügen auf neue Entdeckungen ins
weite Land des Geistes und des
Lebens kam es nicht.

Wann werden die Gebieter der
Hütte auf die Stimme ihres Er-
weckers hören: Mache den Raum
deines Zeltes weit!? Wann wer-
den sie den Mut gewinnen, der
Wirklichkeit ins Auge zu schauen
und die Millionen zu verstehen,
die gern im Schatten des Zeltes
rastetcn, aber es nicht vermögen,
weil die Enge und Dumpfheit sie
hinaustreibt? Ist doch draußen
die Luft so frisch und das Leben
so reich, die Welt so weit und das
Blühen so wonnig — warum geht's
im Zelt denn so kleinlich und so
ärmlich zu?

Der einst zuerst es baute, hat's
wahrlich anders gemeint. Ihm
war der weite Himmel das Dach
des großen Menschhcitszeltes, und
der Erde Rücken sollte der Boden
sein, auf dem es wimmelte von
einem zahllosen Volk der Prüder
und Schwestern. Mit vollen Hän-

den und in seliger Gebelust werde
der Vater seinen reichen Gottes-
schatz auftun — so glaubte er
fest — und die Kinder segnen mit
allem, was das warme Leben er-
zeugt. Und trotz dieser unend-
lichen Mannigfaltigkeit der Nei-
gungen und Kräfte sollten sie sich
erkennen und verstehen nur dar-
an, daß sie Liebe untereinander
übten.

O wache doch auf, du großer,
guter Menschenfreund, den Prie-
ster und Pharisäer einst ins Grab
verdammten, wache auf und mache
den Raum deines Zeltes weit!"

All das ändert freilich nichts
daran, daß aller Wahrscheinlichkeit
nach ein Spruchkollegium so urtei-
len mußte, wie es tat, wenn es
verpflichtet war, seinen Spruch auf
Glaubenssätze zu gründen.
Aud so wird die weitere Lntwick-
lung doch wohl davon abhängen,
ob eine Kirche möglich ist, bei der
überhaupt nicht mehr Glaubens»
sätze, sondern ein religiöses
Fühlen die Bindung unter den
Gemeindegliedern schafft.

Schmocks Schatzkästlein
und die unverdorbene Iu-
gend

^^>,ir kamen auf Schmocks Schatz-
-»-Vkästlein zu sprechen. Ein

Schüler gebrauchte den Ausdruck:
„Diese Ausnahme bestätigt die Re-
gel." Ich zeigte ihm das Unsin-
nige des Satzes, den man ohne
Aberlegung nachspreche. Dabei be-
dauerte ich die Tatsache, daß jcder
diese Worte bereit hätte, um sie
bei möglichst vielen Gelegenheiten
als den Inbegriff der Weisheit
auszukramen. Da kam ich aber
bei der unverdorbenen Iugend
schön an, von den 37 Schülern, die
im Alter von etwa Iahren

stehen, erklärten sieben mit aller
Bestimmtheit, den Ausdruck über-

2. Iuliheft Mi 87
 
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