Rundschau
„Geheimreligion der Ge°
bildeten"?
urch den Satz über die »Ge--
heimreligion der Gebildeten seit
Goethe" in den ^Worten nach rechts
und nach links" zum Fall Iatho
(Kw. XXIV, (3) haben sich einige be-
schwert gefühlt. Sie haben über-
sehen,
(. datz diese Worte ein Zitat
waren,
2. daß die Tendenz des Aufsatzes
gerade dahin ging, diese Geheimreli-
gion aufzuheben und auf eine offene
Aussprache der wirklich vorhande-
nen Neligion zu dringen.
Man darf nicht vergessen, daß
das Gehässige, das der Vorstellung
einer Geheimreligion der Gebildeten
anhaftet, diejenigen zu tragen haben
müssen, welche die Gebildeten dazu
zwingen, eine Geheimreligion zu
haben, indem sie die offene Aus-
sprache der wirklich vorhandenen
Neligion unter Ausnahmegesetz
stellen.
Denn so steht es, wenn man die
Wahrheit sagen will. Ein Staats-
bcamter, sei er Lehrer, Offizier,
Richter oder sei er, was er sei, der
seine von den anerkannten Staats-
religionen (Evangelische Landes-
kirche, Katholische Kirche, zur Not
noch Altkatholizismus und Iuden-
tum) abweichenden religiösen Äber-
zeugungen wirkungskräftig aus-
spricht, ist gezwungen, sein Amt
niederzulegen. Wer sich als Dissi-
dent bekennt, selbst ohne irgendwie
agitatorisch zu sein, erhält ein
Staatsamt gar nicht erst. Ebenso
wie jemand, von dem sozialistische
Aberzeugungen bekannt oder nur
wahrscheinlich sind, ja, der ihrer
nur verdächtig ist.
Die Freiheit der religiösen Äber-
/ 2. Septemberhest IM
zeugung, wie die Freiheit der Äber-
zeugung überhaupt, ist bei uns nicht
in der Weise vorhanden, wie in
England, Frankreich, der Schweiz,
Amerika und Holland.
Darin aber sehen wir allerdings
eine Gefahr und nicht nur im sitt-
lichen Sinn. Die heutige Gesellschaft
unterbindet anf diese Weise gegen-
wärtig mögliche Schwierigkeiten mit
der Gewißheit, ihre Enkel vor sehr
grimmige Aberraschungen zu stel-
len. Wir sichern uns eine küm-
merliche gegenwärtige Bequemlich-
keit, indem wir in erschreckender
Verschwendung vom sittlichen Ka-
pital unsres Volkes leben. Denn
wir züchten auf diese Weise eine
Heuchelei, die deshalb nicht besser
sondern schlimmer, nicht harmloser
sondern gefährlicher ist, weil sie
ihrer selbst vielleicht nicht einmal
bewußt wird.
Es ist die verhängnisvoll klein-
liche Auffassung, die wir im Vater-
lande leider so oft mit dem Begriffe
der „Realpolitik" verbinden. Wir
fassen sie auf als eine zukunftblinde
ideenlose Augenblickspolitik. Änsre
Nachfahren werden das schwer zu
büßen haben.
Die Aureole um den
Druckknopf
ie Industriellen beginnen, den
Schriftstellern eine gar wich-
tige Sache abzusehen: die Tech-
nikder Titelgebung. In die-
sem Bestreben haben sie an sich
ganz zweifellos recht. Wer weiß,
ob nicht das Flügelrauschen in dem
„Also sprach Zarathustra" die selbst-
gewissen Bildungsphilister *, die an-
* Dies Wort, beilänfig, stammt
von Haym, nicht von Nietzsche.
365
„Geheimreligion der Ge°
bildeten"?
urch den Satz über die »Ge--
heimreligion der Gebildeten seit
Goethe" in den ^Worten nach rechts
und nach links" zum Fall Iatho
(Kw. XXIV, (3) haben sich einige be-
schwert gefühlt. Sie haben über-
sehen,
(. datz diese Worte ein Zitat
waren,
2. daß die Tendenz des Aufsatzes
gerade dahin ging, diese Geheimreli-
gion aufzuheben und auf eine offene
Aussprache der wirklich vorhande-
nen Neligion zu dringen.
Man darf nicht vergessen, daß
das Gehässige, das der Vorstellung
einer Geheimreligion der Gebildeten
anhaftet, diejenigen zu tragen haben
müssen, welche die Gebildeten dazu
zwingen, eine Geheimreligion zu
haben, indem sie die offene Aus-
sprache der wirklich vorhandenen
Neligion unter Ausnahmegesetz
stellen.
Denn so steht es, wenn man die
Wahrheit sagen will. Ein Staats-
bcamter, sei er Lehrer, Offizier,
Richter oder sei er, was er sei, der
seine von den anerkannten Staats-
religionen (Evangelische Landes-
kirche, Katholische Kirche, zur Not
noch Altkatholizismus und Iuden-
tum) abweichenden religiösen Äber-
zeugungen wirkungskräftig aus-
spricht, ist gezwungen, sein Amt
niederzulegen. Wer sich als Dissi-
dent bekennt, selbst ohne irgendwie
agitatorisch zu sein, erhält ein
Staatsamt gar nicht erst. Ebenso
wie jemand, von dem sozialistische
Aberzeugungen bekannt oder nur
wahrscheinlich sind, ja, der ihrer
nur verdächtig ist.
Die Freiheit der religiösen Äber-
/ 2. Septemberhest IM
zeugung, wie die Freiheit der Äber-
zeugung überhaupt, ist bei uns nicht
in der Weise vorhanden, wie in
England, Frankreich, der Schweiz,
Amerika und Holland.
Darin aber sehen wir allerdings
eine Gefahr und nicht nur im sitt-
lichen Sinn. Die heutige Gesellschaft
unterbindet anf diese Weise gegen-
wärtig mögliche Schwierigkeiten mit
der Gewißheit, ihre Enkel vor sehr
grimmige Aberraschungen zu stel-
len. Wir sichern uns eine küm-
merliche gegenwärtige Bequemlich-
keit, indem wir in erschreckender
Verschwendung vom sittlichen Ka-
pital unsres Volkes leben. Denn
wir züchten auf diese Weise eine
Heuchelei, die deshalb nicht besser
sondern schlimmer, nicht harmloser
sondern gefährlicher ist, weil sie
ihrer selbst vielleicht nicht einmal
bewußt wird.
Es ist die verhängnisvoll klein-
liche Auffassung, die wir im Vater-
lande leider so oft mit dem Begriffe
der „Realpolitik" verbinden. Wir
fassen sie auf als eine zukunftblinde
ideenlose Augenblickspolitik. Änsre
Nachfahren werden das schwer zu
büßen haben.
Die Aureole um den
Druckknopf
ie Industriellen beginnen, den
Schriftstellern eine gar wich-
tige Sache abzusehen: die Tech-
nikder Titelgebung. In die-
sem Bestreben haben sie an sich
ganz zweifellos recht. Wer weiß,
ob nicht das Flügelrauschen in dem
„Also sprach Zarathustra" die selbst-
gewissen Bildungsphilister *, die an-
* Dies Wort, beilänfig, stammt
von Haym, nicht von Nietzsche.
365