Die Anruhe des modernen Lebens hat nun andere Bücher ins
Volk gebracht, darunter die sogenannte Schundliteratur.
Einsichtige Leute haben bereits in den vierziger Iahren des vorigen
Iahrhunderts die Gesahren bemerkt, welche hier drohen, und haben
nach Kräften entgegengearbsitet. Ein Erzähler allerersten Ranges,
ein Ieremias Gotthelf, hat für einen damals begründeten Volks--
schriftenverlag geschrieben, tüchtige Männer wie der heute sehr unter--
schätzte Srtel von tzorn, der Spinnstubenmann, Gubitz, auch der
nicht ganz verächtliche Nieritz arbeiteten, jeder in seiner Art, nach
dieser Richtung. Der Nutzen war nicht so groß, als die Anstrengung
verdiente; denn das Volk will nicht sich selbst dargestellt sehen, sondern
neue und ihm unbekannte Welten kennen lernen, und es will nicht
die Ratschlägs offen empfangen, die der wohlmeinende Erzähler gibt,
sondern muß mittelbar, durch die reine dichterische Darstellung, zum
Guten geleitet werden. Schließlich kamen alle diese Schriftsteller,
auch der bedeutende Bitzius, doch immer nur auf den nüchternen
Satz: „Wer sich gut bettet, der schläft gut." Ein solcher Rationalis--
mus wird gewiß niemanden schlecht machen, aber wahrscheinlich auch
wenige Leute gut; und im übrigen interessiert er sehr wenig. Die
Romane von Gotthelf haben ihren großen Wert sür die Gebildeten
durch ihre klare und schöne Plastik, aber dem Volk werden sie lang--
weilig bleiben. Es steckt gewiß mehr künstlerische Arbeit im einzelnen
in der Großmutter Käthi als in der heiligeu Genoveva; aber der dich--
terische Wurf ist unendlich viel schwächer, es fehlt das hinreißende
Pathos und die Schönheit; und schließlich hat der einfache Mann
wohl einen ganz guten Geschmack, wenn er die Genoveva vorzieht.
Iene gutgemeinten Auternehmungen wurden immer mehr ver--
drängt durch die sogenannte Schundliteratur. Äber diese werden
vielleicht nur wenige Gebildete ein Urteil haben; ich kann mich des
Eindrucks nicht erwehren, daß man sie oft zu hart beurteilt.' Ieden--
falls ist es nötig, daß gegen sie etwas getan wird: aber was?
tzier kommen wir nun zu der eigentümlichen Erscheinung der
bürgerlichen Anterhaltungsliteratur.
In der zweiten Hälfte des siebzehnten Iahrhunderts beginnt bei
uns die Fabrikation der dummen Romane. Mit den Iahren hat
sie sich immer mehr vergrößert, besonders seitdem das weibliche Ge--
schlecht an ihr teilnahm, und heute hat sie einen ganz erstaunlichen
Rmfang angenommen. Ihre Voraussetzung ist die Existenz von
müßigen Menschen, welche entweder zu ungebildet oder zu träge
sind, ihren Geist in edler Weise zu beschäftigen; und die Möglichkeit,
auf billige Weise durch die Leihbibliothek oder den Iournallesezirkel
Anterhaltungsliteratur zu erlangen. So haben wir in Deutsch-
land eine große Menge Leser, welche in kurzer Zeit einen Roman
verschlingen, dann eineu neuen vornehmen, und so fort. Mit dem
Kunstausdruck heißt das „schmökern".
Von Menschen, welche das sittliche Recht haben, Bücher drucken
zu lassen, gibt es ja jederzeit natürlich sehr wenige, und deren Bücher
sind auch nicht zum Schmökern geeignet. Aber das Geringe von
Begabung, das erforderlich ist, „einer unsrer beliebtesten Erzähler"
zu werden, ist sehr verbreitet, besonders in dem Mittelstand der
j30 Kunstwart XXIV, 2s
Volk gebracht, darunter die sogenannte Schundliteratur.
Einsichtige Leute haben bereits in den vierziger Iahren des vorigen
Iahrhunderts die Gesahren bemerkt, welche hier drohen, und haben
nach Kräften entgegengearbsitet. Ein Erzähler allerersten Ranges,
ein Ieremias Gotthelf, hat für einen damals begründeten Volks--
schriftenverlag geschrieben, tüchtige Männer wie der heute sehr unter--
schätzte Srtel von tzorn, der Spinnstubenmann, Gubitz, auch der
nicht ganz verächtliche Nieritz arbeiteten, jeder in seiner Art, nach
dieser Richtung. Der Nutzen war nicht so groß, als die Anstrengung
verdiente; denn das Volk will nicht sich selbst dargestellt sehen, sondern
neue und ihm unbekannte Welten kennen lernen, und es will nicht
die Ratschlägs offen empfangen, die der wohlmeinende Erzähler gibt,
sondern muß mittelbar, durch die reine dichterische Darstellung, zum
Guten geleitet werden. Schließlich kamen alle diese Schriftsteller,
auch der bedeutende Bitzius, doch immer nur auf den nüchternen
Satz: „Wer sich gut bettet, der schläft gut." Ein solcher Rationalis--
mus wird gewiß niemanden schlecht machen, aber wahrscheinlich auch
wenige Leute gut; und im übrigen interessiert er sehr wenig. Die
Romane von Gotthelf haben ihren großen Wert sür die Gebildeten
durch ihre klare und schöne Plastik, aber dem Volk werden sie lang--
weilig bleiben. Es steckt gewiß mehr künstlerische Arbeit im einzelnen
in der Großmutter Käthi als in der heiligeu Genoveva; aber der dich--
terische Wurf ist unendlich viel schwächer, es fehlt das hinreißende
Pathos und die Schönheit; und schließlich hat der einfache Mann
wohl einen ganz guten Geschmack, wenn er die Genoveva vorzieht.
Iene gutgemeinten Auternehmungen wurden immer mehr ver--
drängt durch die sogenannte Schundliteratur. Äber diese werden
vielleicht nur wenige Gebildete ein Urteil haben; ich kann mich des
Eindrucks nicht erwehren, daß man sie oft zu hart beurteilt.' Ieden--
falls ist es nötig, daß gegen sie etwas getan wird: aber was?
tzier kommen wir nun zu der eigentümlichen Erscheinung der
bürgerlichen Anterhaltungsliteratur.
In der zweiten Hälfte des siebzehnten Iahrhunderts beginnt bei
uns die Fabrikation der dummen Romane. Mit den Iahren hat
sie sich immer mehr vergrößert, besonders seitdem das weibliche Ge--
schlecht an ihr teilnahm, und heute hat sie einen ganz erstaunlichen
Rmfang angenommen. Ihre Voraussetzung ist die Existenz von
müßigen Menschen, welche entweder zu ungebildet oder zu träge
sind, ihren Geist in edler Weise zu beschäftigen; und die Möglichkeit,
auf billige Weise durch die Leihbibliothek oder den Iournallesezirkel
Anterhaltungsliteratur zu erlangen. So haben wir in Deutsch-
land eine große Menge Leser, welche in kurzer Zeit einen Roman
verschlingen, dann eineu neuen vornehmen, und so fort. Mit dem
Kunstausdruck heißt das „schmökern".
Von Menschen, welche das sittliche Recht haben, Bücher drucken
zu lassen, gibt es ja jederzeit natürlich sehr wenige, und deren Bücher
sind auch nicht zum Schmökern geeignet. Aber das Geringe von
Begabung, das erforderlich ist, „einer unsrer beliebtesten Erzähler"
zu werden, ist sehr verbreitet, besonders in dem Mittelstand der
j30 Kunstwart XXIV, 2s