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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,4.1911

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1911)
DOI Artikel:
Bleuler-Waser, Hedwig: Jungmädchenart, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9019#0326
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MLdchen seiner Klasse stcher sei, ob sie objektiv dumm sind oder ge--
scheit. Mögen sie ihn gerne, sind sie eher gescheit, können sie ihn
nicht leiden, eher dumm. Lesen sie doch ihm zulieb Dinge von
seinem Gesichte ab, bevor er sie gesagt hat, Dinge, die ihnen ein
andrer in zwanzig Büchern nicht erklären könnte; ihm zuleide aber
wissen sie nicht einmal das, was sie von den fünf Fingern abzählen
können. All das — wohlverstanden — nicht etwa mit bewußter Ab-
sicht, sondern weil sie davon abhängig sind, ob die angeborne weib-
liche Divination durch ein entsprechendes Persönlichkeitsgefühl geweckt
wird oder nicht. Am wenigsten weiß natürlich die Kleine selber,
was sie weiß. Sie könnte euch zum Beispiel vollkommen ehrlich ver-
sichern, es sei ihr unbekannt, wo die kleinen Kinder herkämen, um am
nächsten Morgen einen Traum zu erzählen, der in durchsichtigster
Versteckung den Vorgang nicht nur der Geburt, sondern sogar der
Zeugung symbolisiert. Neben krasser Unwissenheit der einfachsten
Tatsachen gedeiht da manchmal das feinste Ahnungsvermögen persön-
licher Beziehungen, zumal derer zwischen beiden Geschlechtern. So
bezeugte mir eine Fünfzehnjährige allen Lrnstes schriftlich, daß der
Hahn durch sein Krähen die Geburt eines Eies anzeige; dieselbe
Naive wußte aber nachher auseinanderzusetzen, wie man aus dem,
was Kriemhild und Brunhild im Nibelungenlied über ihre MLnner
sagen, ganz gut merken könne, welche ihren Gatten liebe, welche
bloß mit ihm prahle. — Einmal beobachtete ich, wie einem in derlei
Sachen noch ganz kindischen Mädchen von einem etwas älteren Gym-
nasiasten, der sie sonst recht spöttisch behandelte, ausnahmsweise Kir-
schen vom Baum geholt wurden, wobei er unter dem Gelächter des
kleinen Kobolds zu Falle kam. Nach einiger Zeit entdeckte ich in
ihrem Poesiealbum unter dem Verstecktitel „Nach einem Bilde" die
Verschen:

„Schwarze Kirschen, rote Kirschen wollte einst für dich ich pflücken.

Doch es brach die schwanke Leiter — seufzend lag ich auf dem Rücken.
Schwarzer Kirschen schimmernd Dunkeln: deiner Augen süße Nacht!

Roter Kirschen Purpurfunkeln: deiner Lippen holde Pracht,

Dran ich — ach so gern — mich labte! Doch der Worte seine Sprossen
Stets mir brechen und mein Sehnen bleibt im Herzen scheu verschlossen."

So wußte die Kleine also ebenso genau wie eine dreißigjährige Kokette,
was iu der Seele des tatsächlich verliebten, wenn auch todstummen
Iungen vorgegangen war. — In einer Gesellschaft wird ein vierzehn-
jähriges, sehr begabtes, aber noch ganz kindliches Mädchen zum Vor-
trag eines selbstverfaßten Gedichts aufgefordert. Naiven Stolzes, völlig
unbefangen, deklamiert das Kind mit Feuer zum Schrecken des Damen-
publikums die folgenden, sprachlich so unreifen, und doch durch den
Gefühlrhythmus packenden Verse:

Hochzeit

„Ich werde in weißem Schleier

Einher zur Kirche gehn.

Und alle Buben und Mädchen,

Die werden nach mir sehn,


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