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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,4.1911

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Heft 23 (1. Septemberheft 1911)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9019#0335
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Hartung senior aber stirbt, und Fran Hartung findet allmählich die letzte
nnd größte Aufgabe ihres Daseins in der Erziehung und Liebe ihres
Sohnes, nachdem sie ein letztes Mal verzichtet hat — auf Vereinigung
mit dem dem Iungen zngetanen, sie selbst verehrenden Arzt Bormann
— und dadnrch zu voller Reife des Menschentums gediehen ist.

Auch wie das Buch den Wandel der Generationen veranschaulicht dnrch
doppeltes Auftauchen von Vater und Sohn (Hartung und Lhorinski),
und wie das Leben in Gestalt der jungen Generation allmählich seinen
innersten Willen durchsetzt, mögen diese Proben dartun. Ilgensteins
schönes und reiches Buch verdient nach mehr als einer Richtung liebe-
volle Leser. E. N.^j

O

/-^n den ersten Iahren ihrer Ehe mit Hartung war Frau Gertrud fast
^L wie innerlich gelähmt vor Enttäuschung. Und als ihr auch noch Kiu-
^Fder versagt blieben, da kam eine solche Einsamkeit und eine solche Ver-
zweiflung über sie, daß sie mchr als eiumal in ihrem Zimmer die Koffer
gepackt hatte, um, während Hartung unten im Kontor Zahlen und Zahlen
addierte, auf und davon zu gehen.

Aber das gleiche Gefühl des Geborgenseins, das sie einst für Liebe ge-
nommen, hielt sie auch dann, wenn alles zur heimlichen Abreise fertig war,
immer wieder von dem entscheidenden Schritt zurück.

Frau Gertrud war sich natürlich nicht klar darüber. Aber sie, die ganz
unselbständig als das einzige Kind zärtlich besorgter Eltern erzogen war,
litt an einer Angst vor dem Leben, die selbst die Willenskraft der Verzweif-
lung im entscheidenden Augenblicke lähmte. Sie verging fast in Sehnsucht
nach dem Leben, das irgendwo draußen in der Welt, wie sie es sich hundert-
mal sagte, ihr noch werden konnte, von dem sie aber im Hause dieses Man-
nes abgeschlossen war, als säße sie in einem Gefängnis. Aber wenn sie
schon zu dem Mädchen sagen wollte: „So, nun holen Sie eine Droschke
nnd tragen den Handkoffer hinunter nnd geben dem Herrn, wenn er nach
Hause kommt, diesen Brief", dann hielt sie die Furcht vor dem Kampf
und den Brutalitäten, die nun folgen würden, die Furcht vor dem Ilnbe-
kannten, das sich nun vor ihr auftun wollte, mit solcher Gewalt zurück,
daß sie langsam einen Gegenstand nach dem anderen wieder auspackte und
den Abschiedsbrief verbrannte und sich von neuem in ihre Einsamkeit wie
in etwas unabänderlich Feststehendes schickte.

Wäre ein anderer gekommen, der ihr den Weg bereitete, irgendein
Mann, der sie erobert hätte, sie wäre, auf ihn gestützt, sicher zum Tollkühn-
sten bereit gewesen und hätte sich ohne Rücksicht auf die Meinung von
Memel und Amgebung jubelnd hinaustragen lassen ins Leben.

Aber der Mann, der sie erlöste, kam nicht.

Dafür sorgte schon, ohne es zn wollen, Hartung, der auch im privaten
Umgang stets das Nutzbringende, gute Verbindungen und wertvolle Kon-
nexionen im Auge hatte und infolgedessen eigentlich nur mit älteren, hoch-
angesehenen Vertretern des besseren Spießbürgertums verkehrte. Und wenn
einmal wirklich ein Außenstehender kam, einer, der nicht zu diesen Memeler
Stadtverordneten, Großkaufleuten, Kommerzienräten, die sich alle einander
so merkwürdig glichen, gehörte, dann waren es durchreisende Geschäfts»
freunde.

(. Septemberheft W( 267
 
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