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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,4.1911

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Heft 23 (1. Septemberheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9019#0349
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einen Anzug anzuziehen, den ich
als Knabe getragen hatte. Man
ist herausgewachsen, nnd man
wächst auch aus seinen geistigen
Kleidern heraus. Das ist anch
gut so. Der Schriftsteller kann
zudem gar nicht rasch und krästig
genug über sich selber wachsen.
Und ein Buch ist immer etwas
Unvollkommenes. Es bedeutet
nur einen mehr oder weniger will-
kürlich markierten Albschnitt des
eignen Lebens, das geistige Wachs-
tum selbst aber ist — wenn es
sich normal vollzieht — ein nach
tausend Richtungen hin sprossen-
des Leben in immer neuen An-
sätzen und Blüten und Früchten.
So sind denn die Bücher, die vom
Baume dieser Entwicklung fallen,
nichts andres als Spiegelbilder des
jedesmaligen Entwicklungsstand-
punktes, Momentphotographien, die
schon am nächsten Lage nur noch
historischen Wert für den Autor
haben. Wenigstens mit Bekennt-
nisschriften ist es so.

Eigentlich bin ich froh, wenn ich
eine Zeile lese, die ich früher ge-
schrieben habe und heute nicht
mehr billigen kann, denn gerade
solche Zeilen bezeugen ja den eige-
nen Fortschritt. Das Fortschreiten
aber gehört zum Begriff Entwick-
lnng, und Stillstand ist erst recht
auf geistigem Gebiete Rückschritt
und Tod. Nochmals, man kann
gar nicht rasch genug über sich
selbst hinaus. And die wertvollste
Arbeit, die jemand leisten kann,
der an der Gesamtentwicklung ein
Interesse hat, ist der Weg, den
er zurücklegt, nicht in erster Linie
das Ziel, das er erreichte. Ie
länger aber der Weg und je müh-
seliger die Last, die man schleppt,
desto stärker die Kraft, die not-
wendig ist, um das Ende zu er-
reichen. Mich freut der Weg als
solcher! Wer aber ein Ziel er-

s. Septemberheft Ws

reicht hat und seine Kräfte sind
gewachsen, um ein noch ferneres
Ziel anzustreben, der erst ist durch
den zurückgelegten Weg gestärkt,
der erst bleibt auf dem Wege
weiterer Entwicklung. Wie man»
chen sehen wir schon im blühenden
Mannesalter ausruhn auf seinen
Lorbeern. Ie früher ein Mensch
ausruht, um so schwächer war er.
Der Starke ruht nie.

Daß wir doch viele geistig starke
Wenschen hätten, die nicht an der
ersten Frucht ihrer Arbeit sich ge°
nügen lassen, sondern ihr Leben
lang aufwärts streben von einer
Erkenntnis zur nächsten. Es wür-
den Menschen sein reich an Wider-
sprüchen und Ungereimtheiten,
aber auch Menschen, deren Kraft
gewachsen ist selbst durch die Irr-
wege, die sie gegangen sind. Und
lieber ist mir ein Mensch, der in
der Irre geht, als einer, der gar
nicht mehr von seinem Ruheplätz-
chen aufstehen mag, mag er auch
eine noch so schöne Aussicht „er-
reicht" haben.

Aber diese Unermüdlichkeit im
Weiterstreben kann nur solchen
Menschen eigen sein, die in allem
Vollkommenen doch noch das Un-
vollkommene erkennen nnd in al-
lem Unvollkommenen einen Anlaß
zur Vervollkommnung gewinnen.

Wer sich in die Geschichte einer
Lrfindung oder Entdeckung vertieft
oder in die Entstehung eines Wer-
kes, der erkennt gar bald, daß
jeder Erfinder und Entdecker und
jeder Künstler auf hundert Schul-
tern zugleich steht, nämlich auf
den Schultern aller derjenigen, die
ihm Vorarbeiten geleistet haben.
So sei auch du einer von den
Hundert, auf deren Schultern der-
maleinst ein Kulturriese der Zu°
kunft sich mit zu stellen vermag.

Das möge man schon Kindern
veranschaulichen, um ihr soziales

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