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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1912)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: National
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0017

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Iahrg. 26 Erstes Oktoberheft 1912 tzeft 1

NaLioual

^^.as gehört sür mich zum Lrstaunlichsten in unsrer Kultur: daß man
/nicht mit der festesten Beharrlichkeit bewußt aus die Erscheinun-
gen achtet, von denen hier oft als vom „Steckenbleiben« ge--
sprochen ward. Denn ich kenne nichts Gefährlicheres, nichts Heim-
tückischeres in der Geschichte der Kulturen, und unter den Schäden
nichts Häusigeres als dies. Es bedeutet im Kulturleben dasselbe,
wie im Leben des einzelnen das Philisterwerden, das „Verkalken^.
Ein großes Ziel ist gesehen, mit aller Anspannung mühen sich die
seelischen Kräfte darum. Aber das Bahnbrechen verlangt nun Auf-
merken auf den Weg, aus das Wie, aus die Mittel der Arbeit.
Du mußt mit Gelegenheit, Krästen und Handwerkszeugen Bescheid
wissen, du mußt dich einüben ins Technische, du mußt hier diesen,
dort jenen Nebengedanken erledigen, mußt Hindernisse beseitigen,
mußt Störenfriede besiegen können, ehe du vorwärts kommst. Da
geschieht es: über der Beschäftigung mit all den Mitteln und
Zwischendingen nehmen sie selber dich so in Anspruch, daß du nicht
merkst, wie du dich leise bei ihnen festzusetzen, bei ihnen auszu-
brauchen beginnst, wie du allmählich die Richtung aufs Wesentliche,
den Trieb aus das Große verlierst, wie du abgelenkt wirst oder
stecken bleibst. Wenn dir der tönende Name des letzten Zieles
auch noch in Kopf und Munde umgeht, deine Krast gibt sich doch
in Nebensach-Arbeit aus und vielleicht sogar in abgelenkter Nebenan-
Arbeit. Nnd nun ist es mit dem Vorwärtskommen aus.

Wer dem nachgeht, wird in der Kulturgeschichte aller Bewegungen,
wird in Wissenschasten, Künsten, Religionen, wird überall dieses
Steckenbleiben sinden und ost geradezu als menschliche TragikT Die
seelische Krast der Mehrheiten reicht eben nicht dafür: Ziel und
Mittel zugleich zu bearbeiten. Auch schleichen sich bewußte oder
unbewußte Sonderinteressen in den Mänteln ihrer Schutzgesühle
beim psychischen Ermüdungsvorgange nun leichter ein. Deshalb
sollte man mit voller Bewußtheit immer und überall nachprüsen,
wo in den Kulturbewegungen das Steckenbleiben mit seinem Ver-
äußerlichen, Ablenken, Erlahmen und Fälschen beginnt. Wenn sich
eine eigne psychologische Wissenschast daraus entwickelte, so könnte
sie dem Ganzen besser dienen als manche bestehende — und je
mehr, je kühler objektiv sie wäre.

Bevor wir vom Steckenbleiben beim Thema „national" sprechen,
eine Erinnerung. So viel man in diesen sünsundzwanzig Iahren
gegen den Kunstwart geklagt und gekämpst hat, eins hat ihm noch
keiner abgesprochen: daß er national ist. Neulich erst hat der hoch-
konservative „Reichsbote" in einer Polemik gegen meine Haltung zum

* Ausführlicher ist der Gegenstand im 2. Dezemberheft ly07 behandelt
worden. Der Anfsatz „Vom Steckenbleiben" ist aber auch als Flugschrist
des Dürerbundes (Nr. 36) erschienen.


^ l. Oftoberhest (9(2
 
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