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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1912)
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Spitteler, Carl: Poesie und Dichtkunst
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Batka, Richard: Opernregie
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0468

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Menn nran nrit der üblichen Verachtung der Mchtkunst weiterfährt,
wenn nran Poesie überall sucht nrit einziger Ausnahnre der Dichtung,
so wird nran folgerichtig schließlich in abenteuerliche Gegenden gelangen.
Fragen wir einmal versuchsweise an, stehen Sie mir Rede, hoch-
weise Kritiker! Sie sagen, nicht wahr?: „Poesie ist manchmal außerhalb
von Vers und Reim, außerhalb der Dichtung, sogar außerhalb jeder Litera-
tur echter anzutreffen als innerhalb?" „Gewiß." „Gut. Zum Beispiel
eine edelmütige Handlung, ein kernhafter Charakter, eine erblühende
Iugend, eine Blume, überhaupt das ganze Leben, Tod und Vergänglich-
keit usw., ist das nicht echte Poesie, höhere Poesie sogar als alle Dicht-
kunst?" „In gewissem Sinne ja." „Aha, Sie beginnen zu stutzen. Doch
fahren wir weiter: eine Amsel, welche mit eigener Lebensgefahr sich lahm
stellt, um die Katze von dem Neste abzulocken, ist das nicht echte
Poesie?" „Das jedensalls." „And ist das Entstehen und Werden, das
Gebären der Mutter unter tausend Schmerzen nicht auch tiefe, echte,
ernste Poesie?" „Ohne Zweifel." „Gut, so werde ich Ihnen morgen eine
gebärende Kuh als Rezensionsexemplar auf Ihren Schreibtisch laden lassen.
Sie glauben, ich spaße? Nein, ich denke sehr ernsthaft; und wenn ich
mir erlauben darf, Ihnen einen Rat zu erteilen: denken Sie doch auch
einmal ernsthaft darüber nach, warnm es der Menschheit mit der latenten
Poesie, die einen im Leben überall umgibt, nicht getan ist, warum sie
noch einer besonderen Poesie bedarf, welche man Dichtung nennü Rnd
wenn Sie dann einmal so weit sind, mache ich mich anheischig, Ihnen zu
zeigen, daß Dichtkunst keine Papierfabrik ist, wie Sie zu glauben scheinen,
sondern daß Dichtkunst zur Poesie sich verhält wie der Brunnen zum Quell.
Ich verstehe Ihre Miene: Sie ziehen den Quell dem Brunnen vor?"
„Allerdings." „Trotz Käfern und Spinnen?" „Sogar trotz Käfern und
Spinnen." „Gut. Aber wissen Sie, was mich stört? daß Sie jedes-
mal, wenn Sie zum Quell wandeln, statt eines Bechers das Insektennetz
mitnehmen." KarlSpitteler

Opernregie

^^ür unsre Zeit fehr kennzeichnend ist das Bestreben, dem Opern-
^--vkspielplan durch neue Aufmachungen seiner älteren Bestände neues
Interesse, neue Anziehungskraft zu verschaffen. D<r man die
musikalischen Hilfsmittel bereits erschöpst glaubt, müssen die augen-
fälligen Künste der Regie herhalten. War früher der Kapellmeister
der Mann, auf den sich die Ausmerksamkeit der Zuhörer vereinigte,
so ist jetzt der Regisseur der Held. Wie er meistens mit dem Werke
verfährt, das verdient wohl eine nähere Betrachtung.

Es gilt von je als das Merkmal eines geborenen dramatischen
Tondichters, daß er nicht bloß die Worte seines Buches, sondern auch
die Charaktere, die Gebärden, die Stimmung, das Milieu mitkompo-
niert. Daraus hat dann die moderne Opernregie die „Ersichtlich-
machung" der Musik als ihr Ziel und in der engsten Abereinstimmung
von Musik und szenischer Bewegung ihre wesentlichste Aufgabe er-
kannt. Der echte dramatische Tondichter setzt seine Intuition in
Rhythmus und Klang um; der richtige Opernregisseur holt aus der
Musik das Zeitmaß, die Stimmung der Szene und Gebärde.

Dieser Regiegrundsatz geht übrigens auf keinen Geringeren zurück

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Kunstwart XXVI, 6
 
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