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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1912)
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Gregori, Ferdinand: Schauspieler vor die Front!
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0113

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Iahrg.-26 Zweites Oktoberheft 1912 Heft 2
Schauspieler vor die Front!

^^ch glaube nicht an die künstlerische Vollwertigkeit unsrer Zeit, und
^ ^die Schauspielerei gibt mir vielleicht den unverhülltesten Beweis,
f^Dweil Stoff und Form hier nicht nur in eins verschmelzen, sondern
sogar in dem lebendigen Künstler selbst. Die künstlerischen Schwächen
werden ofsenbar wie ein Schönheitsfehler am nackten Menschen. Des
Dichters Stosf ist der Mensch, und er sormt ihn zum Menschen; für
den Schauspieler ist diese Form wiederum der Stosf, den er mit Hilfe
seines eignen Menschen in eine neue Form bringt. Zwei künstlerische
Prozesse also wirken zusammen zu einer künstlerischen Leistung, zwei
künstlerische Persönlichkeiten sollen einander steigern zu doppelter
Lebendigkeit der Illusion. Wir empfangen die Lindrücke auf dem
geradesten Wege; nicht übers Papier, die Leinwand, den Marmor
weg, sondern gewissermaßen durch die Eigenschasten des Marconi-
telegraphen, durch direkte Strahlungen gleich organisierter tzerde.

Wo geschieht aber heute die geforderte Steigerung? Nur dort,
wo die dichterische Unterlage so fadenscheinig ist, daß jeder Schau-
spieler sie an Lebenskraft übertrifst; er macht schon ein brauchbares
Gewebe daraus, wenn er die in seine derben Hände nimmt. Bei
Dichtern aber vom Range Schönherrs („Erde"), Schnitzlers („Ein-
samer Weg"), Gerhart Hauptmanns („Gabriel Schillings Flucht^) ist
unter den heutigen Talentverhältnissen auf der Durchschnittsbühne
von einer Steigerung des literarischen Eindrucks keine Rede; unser
Schauspielerbestand bringt kaum an den guten ständigen Theatern
eine der Dichtung gleichwertige Vorstellung zustande.

Fast unbegreiflicherweise aber legen wir an die Schauspielerei
ganz andere Maßstäbe an. Sie soll nicht nur den zeitgenössischen
und vaterländischen Dichtern Genüge tun, sondern gleichzeitig den
Dramatikern aller Zeiten und Nationen. Nnd verlangen wir auch
nicht, daß unser Odipus im Kothurn und der Gigantenmaske austrete,
so verlangen wir doch vom Schauspieler unsrer Tage höhere und
reichere Kräfte als vom Dichter unsrer Tage. Niemand wird es
Gerhart Hauptmann als Fehler anrechnen, daß er kein Drama von
der Leidenschastlichkeit und der Struktur des Shakespereschen Mac-
beth geschrieben hat. Noch weniger wird es einem Kritiker einsallen,
Hans Thomas Landschaften durch den Hinweis auf Michelangelos
„Iüngstes Gericht" zu verkleinern. Aus des modernen Schauspielers
Munde aber soll auf Besehl des Publikums der Atem des Aschylus
dampfen, unter seinem Schritte die Welt Guiskards des Normannen
erzittern.

Freilich liegt dieser Forderung der Zeitlosigkeit, der tzerrschast
über alle Stile und der unbegrenzten Ausdehnungsmöglichkeit eine
scheinbar vernünstige Annahme zugrunde. Die Welt glaubt, der
Schauspieler reproduziere nur wie der Rubens- und Rembrandt-
Kopist im Museum. Aber erstens gibt es auch unter diesen Kopisten
sehr einseitige Leute, die nicht von Original zu Original springen

^ 2. Oktoberheft GlZ 8s
 
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