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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1912)
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Malzan,...: "Status quo" und "Nichteinmischung": auch etwas über Kultur und Politik
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Spitteler, Carl: Poesie und Dichtkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0467

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uns. Der Wille zum Kulturfortschritt sollte die einzig allgemein an--
erkannte Legitimation sür eine Linmischung in die Angelegenheiten
eines fremden Staates oder die Verletzung des bestehenden Zustandes
in einem unentwickelten Lande bedeuten. Nur ein Volk, das dasür
das richtige Empfinden hat, steht im Bunde mit den Mächten des
Lebens. Malzan

Poefie und Dichtkunst

enn ein Mensch den Gedanken zustande gebracht hat, datz Poesie
H Nund Dichtkunst nicht das Nämliche ist, daß es eine Poesie auch

außerhalb des Verses, sogar außerhalb der Literatur gibt und
leider auch eine Dichtkunst ohne Poesie, so pflegt er ein so gescheites Ge»
sicht zu ziehen, daß man merkt: das ist so ziemlich das Höchste an
Weisheit, was er mit aller Geistesanstrengung zu erschwingen vermag. Er
sagt auch wirklich mit dieser Unterscheidung eine große und wichtige
Mahrheit aus, überdies eine Wahrheit, die festzustellen einst dringend
nötig gewesen ist — im achtzehnten Iahrhundert, als Deutschland gleich
dem übrigen Europa noch in der Meinung befangen war, Poesie wäre
eine Sache der Sprache, und Dichtkunst eine Sache der formalen Meister--
schast im Reiche der Sprache.

Wer aber heutzutage diese Anterscheidung hervorhebt, meint nicht nur
das, er meint im stillen Herzensgrunde, die Dichtkunst beeinträchtige die
Poesie, die wahre Poesie müsse außerhalb der Dichtkunst gesucht werden
und der echte Dichter sei jener, der keine Verse mache. Daß dieses heutzu--
tage die Meinung und zwar die herrschende Meinung ist, dafür erleben wir
täglich tausend Beweise. Nicht nur, daß im gegenwärtigen Deutschland
mit dem Behagen des überlegenen Vesserwissens jeder, aber auch jeder
prosaische Erzähler des Dichternamens teilhaftig wird und sei er der
denkbar Nüchternste, nicht nur, daß wer Verse schreibt, schon um dieser
Tatsache willen verdächtig erscheint nicht die wahre Poesie zu besitzen,
wir tauschen geradezu das Verhältnis um, erheben einen Philosophen
um einiger poetischer Züge willen in den Rang der Dichter und sprechen
einem Schiller, weil er etwas philosophisch infiziert ist, rundweg die
Dichterqualität ak>. Immer leitet unser Arteil der Grundsatz: Wer dichtet,
beweist hiermit, daß er kein echter Dichter ist, denn ein echter Dichter ist
nur, wer nicht dichtet. Dieses Axiom herrscht nicht bewußterweise, wenig-
stens nicht eingestandenerweise, aber es herrscht mit der Sicherheit des
Instinkts. Es gibt indessen auch mutige Denker, welche den Satz, nach
welchem jedermann uneingestandenerweise urteilt, offen eingestehen.
Einer der schärfsten und ehrlichsten Denker, welche Deutschland besitzt:
Mauthner, der brave Wahrheitszeuge, der ebenso gründliche wie beschränkte
Goethekenner, spricht es geradezu aus: schon das bloße Wort „Dichtkunst"
sei ihm zuwider; nach seiner Meinung sollte es gar keine Dichtkunst geben,
„Dichtkunst" erinnere ihn immer an Gottsched. Mauthners Gedächtnis
ist lückenhaft; denn „Dichtkunst" hätte ihn neben Gottsched auch an Goethe,
Shakespere und Sophokles erinnern können. Oder meint er, Tasso und
Iphigenie, König Lear und König Odipus wären einzig poetische und nicht
zugleich Dichtkunst-Werke? Glaubt er, zu ihrer Vollendung habe es
keiner Sorge, Mühe und Arbeit, keines Willensentschlusses, keiner Äber-
legung, keines bewußten Planes bedurft? —

2. Dezemberhest -W2 M ^
 
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