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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1912)
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Schumann, Wolfgang: Vom Singen lernen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0121

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könne. Kann er's, so wird ihnr die Zumutung, nach einem oder zwei
Iahrzehnten etwa dem persönlich unmittelbaren Kunstdienst zu ent-
sagen, weder absurd vorkommen — noch unmöglich. Denn er wird
imstande und vielleicht auch ethisch kräftig genug sein, noch einen anderen
Beruf zu ergreifen nnd auszufüllen.

Aber den eigentlichen Gesangunterricht kann da, wo Imcherörterungen
ausgeschlossen sind, wenig gesagt werden. Ls gibt viele Gesangpädagogen
von Rang und sast ebensoviele — Methoden. Ich möchte vorschlagen,
daraus den Schluß zu ziehen, daß es vielleicht mehr als eine gute
Methode gibt, und daß also kaum die des jeweiligen Lehrers die unbe-
dingt und absolut beste sei. Die Wichtigkeit der Methode wird oft über-
schäht; zwar kann eine schlechte unzweifelhaft die Stimme zerstören,
aber je stärker die natürliche Anlage eines Menschen ist, sich seiner
natürlichen Ausdruckmittel ohne Falsch zu künstlerischem Zwecke zu
bedienen, um so leichter wird er auch den Vertretern einer Methode
anhören, ob sie die Stimme nach Art einer Pflanze oder eines Roh-
schlüssels behandeln, und den Gärtner suchen, den Feilenbenutzer meiden.
Manche Methoden, die ich kennen lernte, hatten nichts Schädliches sür
die Stimme, versäumten aber, vom ersten Tag der Ausbildung an, den
innigen seelischen Zusammenhang im Bewußtsein zu erhalten, der zwi-
schen dem Bedürsnis nach Leidenschaftausdruck (das allein die Ausbildung
künstlerisch rechtfertigt) und jeder Benutzung der Stimme, auch der
rein übenden, bestehen bleiben muß. Man ließ „leere", gehaltlose Klinge-
leien singen und mit dem Äbermaß von Abungen, an denen kein Affekt
beteiligt war, entstand bald die Gewöhnung, die Stimme als etwas Selb-
ständiges, dem Innenleben relativ Fremdes zu betrachten. Wir haben
viele sogenannte „gute" Sänger, Sänger, welche nicht falsch, nicht zu
langsam oder zu schnell, nicht zu leise noch laut, mit einheitlichem Ton
und sogar nicht geschmacklos singen, und die doch phonographisch wirken,
weil ihnen der Kontakt zwischen Seele und Kehle mangelt. Dies ist meist
ein Fehler der Methode. Ost allerdings auch einer der — Seele.
Auch ein Gesanglehrer muß ein Psychologe sein, dies geht aus alledem
hervor. Iener mangelnde Kontakt ist es, den wir meist als „Amnatür-
lichkeit" empfinden. Ein jnnger Mensch mag jahrelang mit gutem Aus-
druck und Verstehen gesungen haben, — eine solche Lehre kann ihn dann
rasch seinem eignen Innern entfremden. Er, der sich nun selbst nicht
mehr beherrscht, da sich die Stimme dem inneren Einfluß entzogen hat,
vermag natürlich auch niemand anders, vermag kein Publikum zu be-
herrschen. Dies ist der Fall, wo, wie oben gesagt, Stimmbildung den
Kunstwert zerstört. Es ist der häusigste Fall begabter Dilettanten, die sich
vom Wege der Natur abdrängen lassen.

Alles hier Gesagte steht auf dem Gedanken und fällt mit ihm: daß
Singen nicht eine Beschäftigung ist, die wir unserm Körper zuliebe unter-
nehmen, nicht eine angenehme Reizung der Sinne, daß es also nicht
darauf ankommt, die Sinnenqualität der Stimme an sich zu fördern.
Wer in ein Konzert geht, um eine Stimme zu hören, ist wert, ein panr
Luftpfeifentöne von physikalischer Reinheit statt Gesanges vorgetragen
zu bekommen. Wir unserseits meinen, Singen sei eine jener wertvollen
Erlebnisformen, die uns unser Inneres und das Weltgeschehen offenbar
machen, freier, stärker, wirksamer als wir seiner sonst teilhaft werden.

2, Oktoberheft (9(2 89
 
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