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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1912)
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Bülow, Marie von: Rednerische Schulung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0220

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lichkeit übrig bleibt, die mit vollem Bewußtsein alle ihre äußern und
§ innern Hilfstruppen verwendet, um die Aufmerksamkeit des tzörers zu
j gewinnen und festzulegen. Eine gute Desinition von der Kunst des
Vortrags gibt Stendhal, er nennt sie «I'art ä e k i x e r 1'a t t e n t i o n".
Um so notwendiger ist sie, je schwieriger für die geistige Ausfassung die
Materie ist. Nur zu oft hat man bei der öffentlichen Vorlesung eines
Referates den Eindruck, als ob sie mechanisch vor sich ginge, ohne
Wechselwirkung, ohne jede Sorge darum, wie das Auditorium
sich verhält. In sich hinein statt aus sich heraus, auf den Tisch herunter
oder nach einer zufällig gewählten bestimmten Saalrichtung wird ge-
murmelt, das Auge kaum einmal erhoben von dem Nnglücksblatt —
ein französischer Professor, der in Berlin eine conkerence gab, hielt es
sich sogar vor's Gesicht, so daß man nicht einmal von seinen Lippen ab-
lesen konnte, was sein monotones rasches Gesäusel den gespitzten Ohren
vorenthielt. Man hört keinen Punkt, kein Komma, keine Parenthese
wird stimmlich kenntlich gemacht — „o Bächlein, laß dein Rauschen
sein", stöhnt man endlich gefoltert und überlegt, wann und durch welche
nächste Türe ein Entkommen winkt.

Daß der bloße Vorsatz, deutlich und gut zu sprechen, nicht viel
nützt, daß, um ihn auszuführen, vorbereitende Stndien unumgänglich
sind, geht aus dem Gesagten hervor. Neben den Organübungen, bei
welchen gleichzeitig auf die Reinheit der Vokale geachtet werden muß,
ist die Okonomie des Atems zu schulen. Ein langer Atem ist nicht
nur die Seele des Gesanges — wie Richard Wagner einmal sagt — ,
j er ist überhaupt die gesunde Grundlage für eine wohlklingende, ruhig
und sicher dahinfließende Rede, die auch den letzten Silben eines Satzes
ihr volles Recht gibt. Das hängt wieder mit der Deutlichkeit ebenso
eng zusammen, wie es der Gefahr einer Stimmübermüdung vorbeugt.
Das Auf- und Abschwanken der Tonstärke muß von dem Sinn, der
Stimmung des jeweiligen Redeinhalts abhängen, nicht aber von dem
Nmstand, ob noch Atem da ist oder ob er vorzeitig ausgegeben wurde.
Der geschulte Redner wird stets an den sinngemäßen Stellen Atem
schöpfen, wo der Satzbau dies zuläßt; genau so, wie das bei dem künst-
lerischen Sänger der Fall ist, während der dilettantische sich durch salsches
Atmen sofort verrät. Langer Atem, das heißt die Kunst, beim Ausatmen
so zu sparen, daß kein Wort mehr Lust verschlingt, als erweislich nötig,
ist durch konsequentes Äben erlernbar. Man kann dadurch nicht nur
angeborene Anlagen erweitern, sondern auch scheinbar gar nicht vor-
handene wecken. Gewiß, einer rauhen oder blechernen Stimme wird
man ihren Grundcharakter nicht nehmen können; aber etwas veredeln,
modifizieren läßt sich jedes Sprechorgan. And vor allem: es lassen
sich Gliederungen, Abstufungen, Steigerungen bei jedem erreichen, dem
ihre Notwendigkeit beim öffentlichen Sprechen zum Bewußtsein gekom-
men ist. ^

Ganz unabhängig von dem angeborenen Stimmcharakter, also allen
erreichbar, ist hingegen eine konsequente Pflege der Konsonanten, ohne
welche es keine Deutlichkeit gibt. Die deutsche Sprache leidet an einem
Äbermaß von Konsonanten, was jeder weiß, der sich mit dem Studium
fremder, besonders romanischer Sprachen gründlich befaßt hat. Die ver-
schiedenen deutschen Mundarten suchen sich mit dieser Tatsache auf die

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