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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 4 (2. Novemberheft)
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Behl, Carl F. W.: Gerhart Hauptmann: zu seinem fünfzigsten Geburtstage
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0294

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Lin starker und unentwegter Zng der Entwicklung geht durch
Hauptmanns Werk, nicht einer geradlinigen, fast systematischen wie bei
Ibsen, sondern einer weit und oft gar wild verzweigten und verästelten.
Ihr dankt der Dichter jene schier unübersehbare Fülle und Mannig-
faltigkeit der Gestaltungen, der Köpfe unD Bilder, die aber doch von
einem stets wiederkehrenden Grundakkord beherrscht wird. Als ob
die einzelnen Sätze einer großen Symphonie einem zutiefst in ihrer
Seele schwingenden Leitmotiv immer neue, unerhörte Tonreihen und
Wendungen entlockten. Seltsam ist es, wie des Dichters Geschöpfe

— ein bunter Reigen verschiedenster Gestalten aus verschiedensten
Zeiten, Zonen, Ständen und Phantasieregionen — doch ineinander
verschlungen sind: kraft eben jenes großen Leitmotives. Wie etwa
des armen Heinrich klein Gemahl, umwoben vom heiligen Hingebungs-
und Lrlösungsmysterium, eine Schwester jener Ida Buchner zu sein
scheint, die im „Friedensfest" mit der inbrünstigen Kraft ihres Glau-
bens und ihrer Opferungssähigkeit Wilhelm Scholzens Seele den
dunklen Mächten abzutrotzen trachtet; wie des mythischen Wann gar
bald in kühlklarer Weisheit sich lösende Frühlingswallung Kaiser
Karls alterndes Blut in gefährliche Fieber verstrickt; wie Gabriel
Schillings Meeresslucht das Iohannes Vockerat-Schicksal auf einer
höheren, ungleich reiseren Lebensstufe gleichsam noch einmal erfüllt.
So weben Tausende von Fäden zwischen des Dichters zahllosen Ge-
stalten hin und her. Es ist, als ob sie alle einer großen, viel ver-
zweigten Familie zugehörten.

Rnd jenes Leitmotiv, das mit so seltsam mystischem Banne sie alle
bindet, das bald dumpf und düster, bald hell und gläubig und rein
durch Hauptmanns Werk erklingt, läßt sich in drei Worte fassen, die
dessen wert sind, daß sie den Gehalt einer Dichterseele umspannen:

Mitleiden — Sehnsucht — Lrlösung.

In diesem großen Dreiklang liegt zugleich Gerhart Hauptmanns
dichterische Entwicklung beschlossen.

Aus dem Mitleiden mit der ewigen Oual der menschlichen Kreatur

— sei sie der bettelarmen Weber Verzweiflungsschrei, der schuldlos
schuldverstrickten Rose Bernd unentrinnbares Leid oder Michael Kra-
mers unsägliches Vaterweh — löst sich die Sehnsucht los, die große,
wilde, unbezähmbare Sehnsucht der Menschenbrust. Iene Sehnsucht,
„die halt a jeder Mensch hat" und die dieses selig-unseligen Daseins
unsterblicher Teil ist. Aus dieser Sehnsucht aber mußte einer von
Glaubensinbrunst erfüllten Dichterseele das Erlösungsmotiv notwendig
erwachsen. Gerhart Hauptmann hat seit Anbeginn immer und immer
wieder um den Erlösungsglauben gerungen. Zag klingt er an in dem
frühen „Friedensfest", über dem Tode des Glockenmeisters jubelt er
laut und fast allzu grell empor, in dem wundersam herrlichen Mythus
vom armen Heinrich findet er endlich den Sieg:

..Gestorben! Auferstanden!

Die zween Schläge schlägt der Glockenschwengel

Der Ewigkeit."

Und wie ein Leuchten schweben über Gabriel Schillings Todesfahrt
die herrlichen Worte der Lucie Heil: „Ich glaube, nun ist er für
ewig geborgen." Die große tragische Seite des Erlösungsglaubens

22^ Kunstwart XXVI, H
 
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